Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
berstende Wesen, das ein Teil von ihm war und von Grace, zu dem er so wenig beigetragen hatte, während es in Grace herangewachsen und von ihr unter Wehenschmerz zur Welt gebrachtworden war. Jeremy liebte es, seinen Söhnen zuzusehen, wie sie wuchsen und gediehen und die Welt entdeckten, wie sie sich an ihre Mutter kuschelten und wie sie ihn, ihren Vater, ansahen, ihn nachzuahmen versuchten, mit ihm spielten und tobten und lachten und wie ihre Haut roch und wie ihr Haar. Grace und ihrer beider Söhne waren ihm große Lehrmeister, denn sie lehrten ihn jeden Tag, wie verletzlich Liebe machte und wie stark.
Grace’ Lider schlossen sich wie von selbst. Noch immer konnte sie Jeremy spüren, noch bevor sie seine Schritte hörte. Sie genoss es, die Wärme seines Körpers an ihrem Rücken zu fühlen, bis sich seine Hand von hinten um ihre Taille legte und er sie an sich zog.
»Hallo, Grace.« Er küsste sie auf das Ohr.
»Hallo, Jeremy.« Sie legte den Hinterkopf an seine Halsbeuge. »Tommy war vorhin hier.«
Sie spürte, wie Jeremy sich versteifte.
»Er hat mich gefragt, was sich damals bei Assuan wirklich abgespielt hat«, flüsterte sie ihm zu. »Ich habe es ihm erzählt.«
Jeremy entspannte sich wieder. »Das ist gut.« Seine Hand glitt tiefer, auf ihren Bauch hinab, dorthin, wo in Grace neues Leben heranwuchs, wie sie seit ein paar Tagen wussten, und Grace’ Hand schob sich über seine.
»Als er ging, wollte er noch wissen, ob du Len je vergeben hast.« Sie drehte sich in seiner Umarmung halb um. »Ich habe dich das nie gefragt, aber ... hast du ihm irgendwann einmal vergeben?«
Um Jeremys Mund zuckte es, während er nachdachte. »Es gibt Dinge, die kann man nicht vergeben. Nicht als kleiner, sterblicher Mensch.« Er atmete tief durch. »Aber ich hoffe, dass er dort, wo er jetzt ist, Vergebung erlangt hat. Und dass das kein Ort ist, der Ähnlichkeit mit Omdurman hat.«
Grace wandte sich ganz zu ihm um und umfasste das Revers seines Jacketts. Ihre Augen wanderten über sein Gesicht, das kantiger geworden war und das jetzt, mit bald siebenunddreißig,die ersten Fältchen zeigte, vor allem rings um die Augen, für die er am Schreibtisch oder beim Lesen inzwischen eine Brille benötigte, während das erste feine Grau sein Haar durchzog. Wie auch Grace’ Züge schärfer gezeichnet waren und ihrer früheren Lieblichkeit eine herbere Note verliehen.
»Wenn ich dich nicht schon so sehr lieben würde«, murmelte sie, »müsste ich es allein für das tun, was du gerade gesagt hast.«
Die Finger ineinander verschränkt, traten sie durch die Tür hinaus in den Garten.
»Papa!« Der kleine William hatte ihn zuerst entdeckt und zappelte sofort auf dem Schoß seiner Oma Sarah umher, bis sie ihn absetzte, sodass er loslaufen konnte. Sein großer Bruder wandte den Kopf, und seine blauen Augen leuchteten. »Papa ist zu Hause!«, rief er im nächsten Atemzug und rannte ebenfalls los, blieb dann aber stehen, um auf seinen kleinen Bruder zu warten und ihn bei der Hand zu nehmen. Gemeinsam sprangen sie barfuß durch das Gras auf ihren Vater zu, der in die Knie ging und mit einem leisen, tiefen Lachen die Arme ausbreitete und seine Söhne auffing und sie an sich drückte, das Gesicht in ihrem weichen Haar vergraben.
Grace’ und Adas Blicke trafen sich. Die beiden Schwestern tauschten ein Lächeln, in dem sich Wehmut mit Glück verband, und jede wusste, was die andere dachte: Ist es nicht erstaunlich: Wir alle haben so viel Schreckliches durchgemacht, jeder von uns, und trotzdem ist letztlich so viel Gutes daraus erwachsen. So viel Liebe vor allem.
Mit ihren Söhnen gingen Grace und Jeremy hinüber zu ihrer Familie, um in deren Mitte den restlichen Sommertag zu verbringen. Einen Sommertag, der die Erinnerung wachrief an einen Sommer, der dreizehn Jahre zurücklag. Jenen Sommer, in dem sie so jung gewesen waren und frei, sich unbezwingbar und unsterblich gefühlt hatten.
Jenen Sommer, in dem Ada Norbury wieder nach Hause kam.
Jenen Sommer, in dem das Leben erst richtig begann.
FINIS
Nachwort
Als ich vor gut fünf Jahren die Idee zu diesem Roman hatte, hatte ich auch gleich eine klare Vorstellung davon, was im Nachwort stehen sollte – vor allem davon, mit welchen Worten ich auf die Lage im Sudan Bezug nehmen würde. Damals konnte ich nicht ahnen, dass sich Grace, Jeremy und Leonard, Ada und Simon, Stephen, Royston, Becky und Cecily noch einige Zeit würden gedulden müssen, bis ich ihre Geschichte erzähle, weil mir ein
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