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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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befördert worden war, seine Gefangenschaft im Sudan und seine Flucht aus Omdurman waren beinahe schon Legende in Sandhurst.
    Sein Mund unter dem Bart spannte sich an, und er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Die Erinnerungen an den Krieg und an Omdurman waren mit der Zeit verblasst, aber nicht vergessen, und ab und zu kehrten sie schlagartig und mit voller Wucht zurück. So wie jetzt, für einen kurzen Augenblick. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass die britische Armee in der nächsten Zeit wieder im Sudan einmarschieren würde, um die Mahdiya ein für alle Mal zu beenden. Um Rache zu nehmen für Gordons Tod. Für Khartoum. Und für die erlittene Schmach jener Jahre. Um Slatin zu befreien und den Deutschen Karl Neufeld, die in Omdurman gefangen gehalten wurden.
    Noch einmal wanderten seine Augen über die Kadetten, die vielleicht die Nächsten waren, die gegen den Khalifa in den Krieg ziehen und in diesem Krieg verwundet oder gar getötet würden. So jung waren sie, Burschen eher noch als richtige Männer; so jung, wie sie alle damals gewesen waren, und genauso ahnungslos. Genauso hungrig nach Ruhm und Ehre, hungrig nach Abenteuer. Er hoffte, dass er das Seine dazu beitragen könnte, wenigstens einem davon so viel an Wissen mitzugeben, dass er nicht auf dem Feld der Ehre sterben würde.
    Jeremy ließ sich auf der Kante des Professorentisches nieder, ein Bein am Boden, das andere locker über die Kante baumelnd, und mit einer Bewegung, die seinen Ärmel eine Handbreit hinaufschob, beugte er sich vor und legte den Unterarm auf das Knie, sodass seine Narbe am Gelenk gut sichtbar wurde.
    »Gegenfrage an Sie alle, Gentlemen«, entgegnete er in das halb sensationslüsterne, halb erschrockene Einatmen der Kadetten hinein. »Was ist Ihr schlimmster Albtraum?«
    »Es tut mir leid«, flüsterte Grace mit erstickter Stimme und wischte sich die Tränen weg. Von der Seite her sah sie Tommy an, der ans Fenster getreten war und auf den Saum des Eichenwalds hinausschaute.
    Ein Ruck ging durch ihn hindurch, als erwachte er aus einem bösen Traum, und er schüttelte den Kopf, wandte sich zu ihr um. »Nein, Grace. Mir tut es leid. Wegen dem, was ihr deshalb durchmachen musstet. Vor allem Jeremy.« Um seine Brauen zuckte es, als er hinzusetzte: »Ich danke dir, dass du damals alles Notwendige veranlasst hast und ihn nach England hast überführen lassen. Und auch ... auch, dass ihr für euch behalten habt, wie es sich wirklich zugetragen hat.« Grace nickte nur. Sie sah keinen Grund, Tommy zu sagen, dass Ada, Royston, Stephen und Becky ebenfalls wussten, was Leonard getan hatte – das blieb ihrer aller Geheimnis, eines Tages in trauter Runde geteilt und seither wohlgehütet von ihrer eingeschworenen Gemeinschaft.
    Er setzte sich wieder und spielte mit seinem Teelöffel. »Warum ist Abbas eigentlich zurückgekommen?«
    Grace lächelte. »Er hat gesagt, Allah habe es ihm befohlen. Ich glaube ihm sogar. Ich habe nie wieder so einen weisen Menschen getroffen wie ihn. Wir – wir verdanken ihm viel. Alles, im Grunde.«
    »Weißt du, Grace ...« Tommy legte den Löffel hin und knetete seine Finger. »Ich war damals noch sehr jung, aber natürlich habe ich immer gewusst, wie sehr Len dich liebt. Trotzdem hat mich etwas daran schon damals beunruhigt. Aber er war mein großer Bruder, ich habe ihn geliebt und bewundert, und ich habe nie infrage gestellt, was er tat oder sagte. Ach, Grace ...« Er stützte den Ellenbogen auf den Oberschenkel und rieb sich die Stirn. »Ich liebe Emma, sonst hätte ich sie nicht gebeten, meineFrau zu werden. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, ich würde sie zu wenig lieben, weil ich ständig Len vor mir gesehen habe, wie er sich dir gegenüber verhalten hat. Ich glaube, ich habe jetzt verstanden, dass seine Liebe zu dir einer gewissen Besessenheit ähnelte. Das ... das war keine gesunde Art von Liebe. – Oder?«, fügte er verunsichert hinzu.
    Grace dachte einen Moment lang nach. »Ob es zu Anfang so war, vermag ich nicht zu sagen. In Assuan ... in Assuan auf jeden Fall, ja. Vielleicht auch schon in Cairo. Es gibt eine Art von Liebe, die so groß ist, dass sie einen in den Wahnsinn treibt und ins Verderben führt. Das hat Abbas einmal zu mir gesagt. Offenbar hat er in wenigen Augenblicken etwas an Len bemerkt, was uns entgangen ist. Mir zumindest.« Offen sah sie Tommy an. »Wirst du es deiner Mutter erzählen?«
    Er verschränkte die Hände. »Ich denke nicht. Es wird ihr nicht helfen, sondern alles nur

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