Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
wischte mit den Daumen sanft die Tränenspuren fort. Eine dicke Haarsträhne, die sich über dem Ohr gelöst hatte, steckte sie wieder mit einer der funkelnd besetzten Nadeln fest.
»Magst du ihn denn? Simon?«, flüsterte sie.
Ada sah Grace ratlos an. Ada mochte Lammpastete und Karamell, Chopin und Bach, Nebeltage und den Duft frisch abgepellter Orangenschalen. Wie konnte Grace da fragen, ob sie Simon mochte?
»Ich weiß es nicht«, gab sie dennoch mit dünner Stimmezur Antwort und fügte verzagt hinzu: »Ich kenne ihn doch gar nicht.«
Mit bedrückter Miene harrte Simon am Rand der Tanzfläche aus.
»... ich für meinen Teil könnte mir niemals vorstellen«, schnatterte neben ihm Helen Dunmore, die Patentochter von Lady Grantham, »den ganzen Sommer in London zu verbringen! Im Sommer muss man doch aufs Land, besser noch ans Meer!« Hoffnungsvoll fügte sie hinzu: »Somerset im Juli stelle ich mir zauberhaft vor ...« Als Simon nichts darauf erwiderte, hakte sie nach. »Wie ist es denn dort im Sommer?«
Es dauerte einige Augenblicke, ehe Simon bemerkte, dass sie mit ihm gesprochen hatte. »Ehm ... Nett. Wirklich nett ist es dort.« Dann versank er wieder in dumpfes Brüten.
Unmut zeichnete sich auf dem elfenbeinhellen, sommersprossigen Gesicht von Helen Dunmore ab, das Simon noch vor wenigen Wochen so anziehend gefunden hatte, dass er ihr hinter der Ligusterhecke einen Kuss raubte. »Wir fahren ja meistens nach Kent«, fuhr sie tapfer fort. »Vielleicht wäre Somerset eine schöne Abwechslung ...«
Ein Zucken ging durch Simons Herz, als Ada mit Grace hereinkam.
»... findest du nicht auch, Simon?« Helen Dunmore blickte zutiefst gekränkt drein. »Simon?«
Wie von einer unsichtbaren Hand vorwärtsgeschoben, ging Simon auf Ada zu, blieb dann jedoch stehen, als Leonard ihm ein Zeichen gab und Grace mit dem Kopf in Richtung ihrer Eltern ruckte – ein behutsamer Hinweis, dass Simon um ein Haar einen gesellschaftlichen Fauxpas begangen hätte. Auf der Stelle machte er kehrt, und mit jedem Schritt kehrte seine altvertraute Forschheit zurück.
»Verzeihung, Colonel Sir!« Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich gleich darauf. »Lady Norbury! Ich möchte Sie höflichst darum bitten, mit Miss Ada tanzen zu dürfen!«
Für die Norburys gab es keinen Grund, der dagegen sprach, und mit ihrer Erlaubnis eilte Simon auf Ada zu, verbeugte sich mit leuchtenden Augen vor ihr. »Darf ... darf ich dich um diesen Tanz bitten, Ada?«
Sie konnte nur nicken, und in dem Blick, den sie ihrer Schwester über die Schulter zuwarf, als Simon sie auf die Tanzfläche führte, stand alles Glück dieser Welt.
»Danke.« Grace nahm das Champagnerglas entgegen, das Leonard ihr hinhielt. Obwohl er sich den Anschein gab, als sei nichts gewesen, als hätte es jene Augenblicke unter den geisterhaft leuchtenden Apfelbäumen nie gegeben, hatte sich etwas verändert zwischen ihnen. Als ob die unbeschwerte, fröhliche Vertrautheit der Kindertage unwiederbringlich verloren gegangen wäre. Ein Gedanke, der Grace traurig stimmte.
Vergeblich hielt sie unter den Gästen nach einem ganz bestimmten Gesicht Ausschau: eines, das hart und unbeugsam war und nur so selten, so verhalten zugänglich. Jeremys Gesicht.
»Wer hätte das gedacht«, sagte Leonard zwischen zwei Schlucken, »dass es ausgerechnet Simon einmal so erwischen würde.«
Grace nickte nachdenklich. Es war offensichtlich, wie es um Simon, aber auch um Ada stand, so selbstvergessen, wie sie miteinander tanzten, so ineinander versunken.
Colonel Norbury blieb dies ebenfalls nicht verborgen; eisig hing sein Blick auf Simon Digby-Jones. Selbst wenn Simon den Colonel davon überzeugen sollte, dass er ehrenhafte Absichten hegte, blieb er dennoch, was er war: gerade einmal achtzehn Jahre alt, der jüngste der vier Söhne von Baron Alford, ohne Aussicht auf ein Erbe und noch weit, weit davon entfernt, ein gemachter Mann zu sein, der für Frau und Kinder sorgen konnte.
6
Es war eine lange Nacht, sowohl für die Gäste, die sich noch vor Morgengrauen auf ihre umliegenden Anwesen zurückbringen ließen, als auch für die, die auf Givons Grove blieben und dort kurz vor Tagesanbruch in die Betten sanken. Am andern Morgen waren die Adern wie mit Blei gefüllt, doch starker Tee, Eier mit Speck, gebutterter Toast mit Honig und süßes Porridge munterten alle auf, und während Väter und Mütter, Onkel und Tanten noch am Frühstückstisch saßen, das Wiedererwachen der Lebensgeister genossen,
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