Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
»Sandhurst. Dieser ganze verfluchte Militärmist.«
Jeremy rieb sich nachdenklich mit dem Handrücken über das Kinn. »Und wenn du einfach durchfällst? Dann wärst du raus aus der Sache.«
»Und dann?! Glaubst du, mein Vater lässt mich dann endlich an die Universität? Nie im Leben! Dann stehe ich da, ohne rechte Ausbildung, ohne einen Penny. Womöglich enterbt mich der Alte und ich bekomme später nicht einmal mehr Shamley!Nein, Jeremy, aus der Sache komme ich so schnell nicht mehr raus!« Er war den Tränen nahe.
»Wo führst du mich denn hin?«
»Wirst du gleich sehen.«
»Ich sehe rein gar nichts, Len, weil es hier verflixt dunkel ist!« Grace verschluckte sich beinahe an dem Lachen, das ihr in der Kehle saß.
»Nur noch ein kleines Stück!«
Leonard hatte sie an der Schmalseite der Gartenmauer entlanggeführt und dann über den Rasen, weiter als der Lichtschein aus dem Haus und von den Lampions reichte, die hier nur noch als schimmernde Flecken zu sehen waren. Er zog sie durch eine Lücke im Gebüsch hindurch und ließ ihre Hand los, drehte sich auf dem Absatz um und ging rückwärts weiter.
Grace blieb stehen, als sie das weiße Leuchten vor sich sah. Eine Gruppe alter knorriger Apfelbäume stand in voller Blüte und warf das Licht der Sterne zurück. So wie die weiß blühende Fliederhecke dahinter, die einen betäubenden Duft verströmte. In eine Zauberwelt hatte Leonard sie entführt, die sie überwältigte und stumm machte.
Leonard konnte den Blick nicht von ihr wenden, sich nicht sattsehen daran, wie sich das Nachtlicht über sie ergoss, sodass sie aussah wie eine Fee, so als wäre sie nicht ganz von dieser Welt. Und doch war es immer noch dieselbe Grace, mit der er beinahe sein ganzes Leben lang herumgealbert und gelacht hatte. Von der er wusste, dass auf ihrem rechten Knie eine winzige Narbe prangte, weil er dabei gewesen war, als sie es sich mit sieben an einem Stein auf einem Feldweg aufgeschlagen hatte. Die ihm mehr als einmal beim Spielen in den Sommerwiesen einen Bienenstachel herausgezogen, die pochende Stelle mit ihrer Spucke benetzt und darauf gepustet hatte, um sie zu kühlen. Mit der er über die Felder gestreift war, sommers wie winters, Jahr um Jahr. Jahre, in denen sie wuchsen und reiften wie der Weizen aus dem Keimling.
Am Fuß eines der Bäume bückte er sich und hob etwas auf.
»Gib mir deine Hand.«
Sie kam näher, und er legte es in ihre ausgestreckte Handfläche: ein kleiner Strauß aus Gänseblümchen, die Stängel zusammengebunden und noch nass von dem Wasser, in dem sie gestanden haben mussten.
»Erinnerst du dich?«, fragte er leise.
»Natürlich erinnere ich mich«, wisperte sie, ein flatteriges, glückliches Lächeln auf den Lippen.
Ein Nachmittag auf Givons Grove, in einem Mai, der lange zurücklag. Komm mit, Gracie, ich hab was für dich! Zwei Kinder, die barfuß durch das Gras rannten. Der Junge mit dem flachsblonden Lockenkopf vorneweg, das Mädchen mit der großen Schleife im weizenhellen Haar hinterher. Blühende Apfelbäume, in denen Hummeln summten, und der Duft von weißem Flieder. Eine Handvoll Gänseblümchen, die Enden der Stängel aufgeweicht und glitschig. Die hab ich für dich gepflückt! Und während die kleine Grace sich noch an den Blumen freute, um die sie die Finger geschlossen hatte, legten sich heiße Jungenhände auf ihre Wangen, und ein Mund drückte sich fest auf den ihren, ein Mund, der nach Äpfeln schmeckte und nach Butterkuchen.
»Ich war sechs und du fünf«, raunte er.
Grace nickte, überschwemmt von gemeinsamen Erinnerungen.
»Wir sind keine Kinder mehr.« Seine Stimme klang tief, tief und zärtlich.
»Ich weiß«, flüsterte sie und sah auf.
Er stand dicht vor ihr und lächelte, und Grace begriff.
Bitte nicht, Len. Bitte. In Abwehr wollte sie den Kopf schütteln, doch sie war wie gelähmt.
Noch vor einem Jahr hätte sie es geschehen lassen. Da wäre dies ein Moment des Herzklopfens und des vollkommenen Glücks für sie gewesen. Weil sie geglaubt hatte, was jeder in und um Shamley Green und Givons Grove glaubte: dass sie und Leonard füreinander bestimmt waren. Nicht, Len. Ich will dir nicht wehtun müssen.
Nicht Leonard, den sie so lieb hatte wie Stephen. Genau so, auf dieselbe Weise, wie Zweige, die aus demselben Wurzelstock hervorgegangen waren, unter derselben Sonne, demselben Regen gewachsen waren. Nicht mehr und nicht weniger, wie sie inzwischen wusste. Aber nicht genug. Nicht so, wie sie Jeremy liebte. Nicht gleich
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