Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
– in Gedanken bin ich immer bei Dir!
In Liebe,
Dein Simon!
Noch bevor sich der zähe Novembernebel auflöste und der erste Schnee fiel, traten sie ihre Reise an und ließen England hinter sich. Malta, ein spärlich begrünter Fels im kobaltblauen Meer, karg und zerklüftet wie der abgewetzte und vergilbte Backenzahn eines Wiederkäuers, wurde ihr neues Zuhause. Es war ein seltsames Weihnachten für sie alle, auf Bellingham Court und auf Givons Grove, auf Ashcombe House und auf Shamley Green, dieses erste Weihnachten ohne die jungen Männer. Ein seltsames Weihnachten war es auch in der Garnison auf Malta, wo sie die Festtage unter anderen Offizieren anstatt mit den Lieben zu Hause verbringen mussten, und doch blieb wenig Zeit, süßen Erinnerungen nachzuhängen. Die Tage waren lang und betriebsam, während sie ihre Plätze im Gefüge des Bataillonseinnahmen und auszufüllen versuchten. Eintönige Tage waren es, die im gleichmäßigen Rhythmus des Kasernenlebens verstrichen, zwischen Morgenappell und Zapfenstreich, immer die gleichen marschierenden Schritte, die bellenden Befehle, die krachenden Schüsse, die über den Exerzierplatz hallten und von den Mauern zurückgeworfen wurden.
Jene Tage des neuen Jahres 1882, während in Surrey der Schnee hoch lag, weiß und weich und pulvrig. Als er verharschte und schließlich schmolz und darunter die nackte Erde zum Vorschein kam, die langsam zu grünen begann. Dann, als die ersten Knospen an den kahlen Ästen aufbrachen und sich entfalteten, als England sich ein Frühlingskleid in zartem Grün und Weiß und Rosa überstreifte und ein neuer Sommer an die Tür klopfte und Einlass erhielt.
Malta, den 4. August 1882
Liebe Grace,
dies ist unsere letzte Nacht auf Malta. In einigen Stunden brechen wir auf, nach Alexandria. Es war unangenehm in den letzten Wochen, nicht zu wissen, wann es losgeht und ob es überhaupt losgehen wird. Jetzt hat zumindest das Warten ein Ende.
Ich hoffe, wir sind gut vorbereitet auf das, was uns dort erwartet. Leonard, Royston und ich versprechen Dir, auf Stephen achtzugeben, und dasselbe werden wir bei Simon tun, für Ada; sie sind doch die Jüngsten unter uns.
Den Rimbaud, den Du mir im Oktober mitgebracht hast, habe ich schon eingepackt. Ich sage Dir nochmals Danke dafür. Solange er bei mir ist, werde ich das Gefühl haben, dass auch Du nicht allzu weit von mir entfernt bist.
Ich schreibe Dir aus Alexandria, sobald ich kann.
Jeremy
Zweites Buch
In Liebe und Krieg
Und Dunkelheit fällt, mit verächtlich’ Donnerschlag,
auf der Menschen Traum und ihr Begehr.
Dann erst, in der großen Leere,
soll der Tod, der kommt auf leisen Sohlen,
fürchten den Ruhmesglanz auf unsren Zügen,
leuchtend durch all die finstre Ewigkeit.
So gekleidet in vollkomm’ne Liebe
wird das ewig Ende finden uns eins,
allein über der Nacht,
über dem Staub der toten Götter, allein.
RUPERT BROOKE
Durch die Ferne wächst die Liebe, sagt man in England. Und in die Ferne wurden sie geschickt, Jeremy und Simon, Stephen, Leonard und Royston, an das Ende des Mittelmeeres, nach Ägypten.
Ein Land von gewaltiger Ausdehnung war Ägypten in jenen Jahren, zwischen der endlosen Sahara im Westen und dem Roten Meer im Osten, von der Küste mit dem saftig grünen Flussdelta im Norden über staubige, steinige Wüsten und Savannen hinunter zu den fruchtbaren Provinzen des südlichen Sudan, wo seine Grenzen teils an Abessinien stießen und teils an das schwer und kräftig schlagende Herz des Kontinents rührten. Ein altes, ein ewiges Land, von Menschen besiedelt und bebaut und wieder aufgegeben und neu urbar gemacht, länger als die Überlieferung zurückreicht. Beherrscht von Reichen, die längst wieder untergegangen waren, ihre Spuren verwittert oder verweht von der Zeit. Versunken im Sand der unerbittlichen Wüste, die sich in ihrer Weite, ihrer Macht niemals bezwingen lässt. Zähmen lässt sie sich nur, diese Wüste, widerstrebend und niemals ganz, von der Lebensader des Nils, der dieses Land durchzieht, der es tränkt und nährt und erhält. Dieser titanenhafte Strom, der mit seiner Schönheit die Grausamkeit vergessen macht, zu der Sonnenglut und uferlose Leere fähig sind.
Ägypten kannte Dürre und Flut, Hunger und Überfluss, Armut und unermesslichen Reichtum, Gutmütigkeit und flammenden Hass, Herren und Sklaven. Das Kommen und Gehenvon Völkern, von Göttern und von Sprachen hatte Ägypten gesehen, von denen einige geblieben waren, hier, wo Orient und
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