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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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zufrieden vor sich hin.
    Jeremy stieg die breite Treppe halb hinauf, stellte die Laterne ab und ließ sich einige Stufen darunter in ihrem Schein nieder. Zwischen den Seiten des Rimbaud holte er einen geöffneten Brief hervor, und sofort flog ihm ein sanfter Duft, frisch wie zarte Blüten, entgegen, der etwas in ihm in Schwingung versetzte. Jeremys Mundwinkel kerbten sich ein, als er die Seiten auseinanderfaltete und seine Augen noch einmal über die Zeilen in Grace’ großer, runder Handschrift wanderten. Den Gedichtband als Unterlage auf seinen angewinkelten Knien, zog er einige leere Blätter daraus hervor und schraubte die Kappe des Füllfederhalters ab, das Geschenk seiner Mutter zu seinem Geburtstag im Oktober.
    Alexandria, den 3. September 1882
    Liebe Grace,
    hab vielen Dank für Deinen Brief, der mich heute Morgen erreichte.
    Du willst wissen, wie wir untergebracht sind? Das soll Dir wohl besser Dein Bruder in aller Ausführlichkeit schreiben; er könnte das gewiss poetischer ausdrücken, als ich dazu in der Lage bin.
    Noch bevor er den Punkt an das Ende des Satzes setzte, glaubte er wie aus weiter Ferne Grace’ Lachen zu hören und ihren neckenden Ausruf: »Ich hab aber dich gefragt!«, und sein Mund verbreiterte sich zu einem halben Lächeln.
    Ein Bürger der Stadt mit britischem Pass und von griechischer Herkunft namens Antoniadis hat uns seine Villa zur Verfügung gestellt – oder vielmehr seinen Palast in der Nähe des Mahmoudia-Kanals im Süden der Stadt. Wir residieren also äußerst nobel in einem luxuriös ausgestatteten Gebäude mit Stuckdecken und Spiegeln, mit Gemälden und Kronleuchtern, das einem englischen Herrenhaus in nichts nachsteht, und ziehen Royston die ganze Zeit auf, dass sich Estreham daneben richtiggehend schäbig ausnimmt.
    Aus den Rechtecken der hell erleuchteten Fenster drangen die polternden Stimmen und das dröhnende Gelächter der anderen Offiziere. Jeremys Augen schweiften durch den nächtlichen Garten, über die Schattenrisse der Sträucher und Blumenstauden und über die Palmen hinweg, hinüber zu den Zelten der Soldaten, die im Lampenschein auf dem englischen Rasen beisammensaßen und deren Gespräche eigentümlicherweise wesentlich leiser verliefen als die ihrer Vorgesetzten, obwohl sie den weitaus größeren Teil des Regiments ausmachten. Kieswege und steinerne Balustraden durchzogen den Garten des Anwesens, und die einzelnenEbenen waren durch breite Treppen miteinander verbunden, wie die, auf der er gerade saß.
    Erbaut ist die Villa auf einer antiken Stätte; ein unterirdisches Grabmal mit einer Zisterne ist noch erhalten. Ich bin gestern dort hinuntergegangen und habe mir den zum Himmel offenen Innenhof angesehen, das Vestibül und den Alkoven für den Sarkophag. Einer der Gärtner erklärte mir, dass das Grab wohl noch aus der Zeit der Ptolemäer stammt und wegen der an die Wand gemalten Schlange »Das Grab von Adam und Eva« genannt wird. Vielleicht auch wegen des Gartens, der durchaus etwas Paradiesisches hat. Ich wünschte, ich könnte ihn Dir beschreiben oder Dir wenigstens die Pflanzen benennen, aber für mich sind es nur rote und weiße Blüten in dichtem Blattwerk und ein betörender Duft, der jetzt, bei Dunkelheit, in der Luft liegt. Alexandria selbst ist ...
    Nachdenklich fuhr er sich mit dem Ende des Federhalters über das Kinn. Er suchte nach Worten, um die Bilder zu beschreiben, die er vor sich sah: die breiten Boulevards mit den Bäumen, die eleganten Häuser nach europäischem Vorbild mit den Gaslaternen davor, die sich ebenso gut in London hätten aneinanderreihen können. Die Kirchen, deren Glocken derzeit verstummt waren, und die Kuppeln der Moscheen und die schlanken Minarette, von denen zur Gebetsstunde die Muezzine in ihrem klagenden Singsang riefen. Die würfelförmigen ägyptischen Häuschen in den entlegeneren Stadtteilen und das türkisblau leuchtende Meer, das die Hafenmauer umschmeichelte.
    Alexandria selbst ist grün, sehr grün, voller Gärten, und manchmal riecht man sogar hier, im Garten der Villa, das Meer. Zumindest kommt es mir so vor; möglicherweise ist es auch der Salzsee auf der anderen Seite der Stadt, der unserem Quartier viel näher ist als der Hafen und der »Mareotis« heißt.
    Eine berückend schöne Stadt ist Alexandria, immer noch, auch wenn das Bombardement durch die Schiffe der Royal Navy im Juli großen Schaden angerichtet hat und das anschließende Großfeuer, das zwei Tage lang wütete, seinen Teil dazu beitrug.

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