Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Cairo aus anderen Städten das Wasser abgraben«, erklärte Jeremy und setzte sein Glas ab, nahm erneut den Finger zu Hilfe, um Örtlichkeiten auf der Tischplatte zu markieren. »Ich habe mir das auf der Karte angeschaut. Von Cairo führt ein Trinkwasserkanal nach Nordosten und gabelt sich bei Nefisha. Ein Zweig versorgt Ismailia und Port Said, der andere Suez. Wer immer die Wasserversorgung der Städte am Kanal kontrolliert, der hat auch den Kanal in der Hand. DasGanze hier wird erst vorüber sein, wenn Cairo nicht mehr in den Händen der Aufständischen ist.«
»Glaubt ihr, dass es noch zum Kampf kommt?«, fragte Stephen leise in die Runde.
»Ach was«, widersprach Leonard. »Allenfalls zu dem einen oder anderen Scharmützel. Und da werden wir Arabis Armee geradezu vom Schlachtfeld fegen!«
»Abwarten«, murmelte Jeremy. Seine Gedanken wanderten wieder zu dem toten Jungen in dem zerstörten Haus, und er wusste nicht, ob es besser war, dieses Bild so schnell wie möglich zu vergessen oder es als Mahnung dauerhaft im Gedächtnis zu behalten.
»Also falls «, verkündete Royston und richtete sich auf, » falls es zum Kampf kommen sollte – dann möchte ich niemanden lieber an meiner Seite wissen als euch!« Er verlieh seiner scotchgeschwängerten Stimme eine gewisse Theatralik und hob das Glas. »So lasst uns hiermit schwören, feierlich und von Angesicht zu Angesicht, füreinander einzutreten und einander beizustehen, ganz gleich, wie hitzig auch das Gefecht sein mag. In Krieg und Frieden, jetzt und immerdar – wir, die fünf Musketiere. Alle für einen, einer für alle!«
Simon und Leonard grinsten sich vielsagend an; Stephen bedachte Royston mit einem milden Lächeln, und Jeremys Mund krümmte sich spöttisch. Dennoch klirrten über dem Tisch ihre Gläser aneinander, bündelten sich ihre Stimmen zu einem Chor, dessen Ruf hinaufflog zum Sternenhimmel über Alexandria.
»Alle für einen, einer für alle!«
18
... Ich kann es kaum glauben, dass jenes Wochenende auf Estreham schon etwas mehr als ein Jahr her sein soll. Oft denke ich daran und an das Versprechen, das Du mir gegeben hast.
Grüß Ada und Becky von mir und auch Colonel Norbury und Lady Norbury.
Jeremy
Grace faltete den Brief zusammen, den sie bestimmt schon ein Dutzend Mal gelesen hatte, seit er heute Nachmittag nach seiner dreizehntägigen Reise eingetroffen war. Das Jahr, seit sie sich heimlich mit Jeremy verlobt hatte, in jenem Gewitter, unter dem Pavillon im Garten von Estreham, war ihr endlos lang vorgekommen. Dabei war es ein Jahr gewesen, das sicher nicht mit weniger Festen, Einladungen und Empfängen ausgefüllt gewesen war als das davor, mit Ausritten und Jagdausflügen und Spaziergängen und Büchern und all den kleinen und großen Dingen, bei denen sie ihrer Mutter auf Shamley Green zur Hand ging. Und dennoch kam es ihr vor, als ob die Zeit spürbar langsamer verging, seit Stephen, Leonard, Simon und Royston nicht mehr hier waren. Seit Jeremy fort war vor allem.
Nachdenklich sah sie zum Fenster hinaus, in den Regen, der über dem Garten niederging und die leuchtenden Farben des Septembers auszuwaschen schien. Ich wünschte, Du wärst wieder hier, Jeremy. Du fehlst mir. Die Sehnsucht nach ihm lief wie ein Krampf durch sie hindurch, noch verstärkt durch die träumerische Melodie, die aus dem Musikzimmer herübertröpfelte. Grace schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen den Fensterrahmen. Sie schrak auf, als sie hinter sich eine Stimme hörte, und wandte sich halb um. »Entschuldigung – was hast du gesagt?«
Ihre Mutter hob die Augen von ihrem Stickrahmen, ein mit Weitblick schon jetzt begonnener Kissenbezug für den Weihnachtsbasar der Holy Trinity Church. »Ich habe dich gefragt, ob du schlechte Nachrichten bekommen hast.«
»Nein«, beeilte sich Grace zu antworten, zwang sich zu einem Lächeln, das schnell wieder verlosch, und ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, als sie sich wieder zum Fenster wandte. »Nein, keineswegs.« Ein nasser Flaumball schoss aus dem Nichts auf den Blumenkübel zu und landete auf dem Rand. Unter dem Laubdach des Pomeranzenbäumchens, das eigentlich schon längst für den Winter hätte hineingeräumt werden sollen, schüttelte sich der Spatz aus und plusterte sich auf, ließ unter ruckartigen Bewegungen des Kopfes seine Stecknadelkopfäuglein bekümmert umherhuschen und flog dann wieder davon.
Grace verschränkte die Arme und drehte sich wieder zu ihrer Mutter um. »Wie hast du das nur all
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