Jenseits des Protokolls
Linus und ich noch in Großburgwedel führten. Und es war ganz einfach der pure Stress. Denn immer und überall, wo ich war, hatte ich die Uhr im Kopf. Sei es morgens, damit ich rechtzeitig den Zug nach Berlin erwische, oder am Nachmittag, damit ich rechtzeitig wieder zurückkomme. Ich musste in Berlin spätestens die Bahn gegen 14.30 Uhr nach Hannover-Hauptbahnhof schaffen, um die Jungs noch vor 17 Uhr, vor dem Schließen von Hort und Kita abzuholen. Zumeist war es eine absolute Punktlandung und die Jungs waren bereits die letzten Kinder in der Betreuung und saßen daher oftmals schon in Jacke und Schuhen etwas verloren da und warteten auf mich. Ein schlimmer Anblick, der mir jedes Mal die Kehle zuschnürte.
Gut erinnere ich mich noch an einen Tag, als ich nach einigen Gesprächen in Berlin ebenjenen Zug Richtung Hannover verpasste. Zwar wurde ich dann von einem Fahrer des Bundespräsidialamtes nach Hause gefahren, doch jeder, der die Strecke Berlin–Hannover kennt, weiß, dass man schon froh sein kann, wenn man nur etwas mehr als zweieinhalb Stunden mit dem Auto unterwegs ist. Viel zu lang, um die Jungs noch pünktlich abholen zu können. Meine Mutter war an diesem Tag beim Arzt, mein Vater wollte sie begleiten. Torsten, Leanders Vater, war beruflich in Süddeutschland unterwegs und so saß ich im Auto und telefonierte erst einmal einige Eltern anderer Kita-Kinder ab, um sie zu bitten, Leander und Linus mit zu sich nach Hause zu nehmen. Dieses Bittstellen war mir unangenehm. Auch weil ich mir nicht ausmalen wollte, was möglicherweise der eine oder andere Vater, die eine oder andere Mutter dachte. Von wegen: Jetzt ist der Wulff Bundespräsident und schon werden die Kinder aufs Abstellgleis geschoben.
Mich plagten Schuldgefühle und ich nahm es in dieser Zeit auch dem ganzen Apparat »Bundespräsidialamt« übel, dass sie nicht realisierten, unter welchem innerlichen Druck ich stand. Das Amt der Frau des Bundespräsidenten war zu diesem Zeitpunkt absolut untauglich für Mütter mit kleineren Kindern. Was ja fast schon etwas paradox ist. Da gibt es von der Regierung ein Gesetz über Teilzeitarbeit, doch an höchster Stelle ist dies in keiner Weise umsetzbar.
Auf der Suche nach einer wenigstens teilweisen Lösung des Stresses kam mir die Idee, ein Au-pair-Mädchen aufzunehmen. Sie sollte zunächst mit den beiden Jungs und mir in Großburgwedel wohnen und uns später dann mit nach Berlin begleiten. Auch Christian fand den Vorschlag gut, und so kam Mitte August über den Verein für internationale Jugendarbeit der Diakonie Maria * zu uns. Sie stammte aus Südamerika, war Anfang 20 und, um es vorwegzunehmen: Es funktionierte überhaupt nicht, leider. Bei uns im Haushalt herrschte ein tierischer Takt und manchmal auch ein dementsprechender, von meiner Seite aus teils »militärischer«, Ton, wie meine Mutter mir einmal sagte. Sicher stimmt das ein Stück weit. Zwar albere ich gerne mit Leander und Linus herum, wir machen Quatsch, können stundenlang zusammen im Garten Fußball spielen, aber wenn ich unter Druck stehe, es einen Termin oder eine feste Verabredung gibt, dann müssen die Kinder einfach mal auch nur funktionieren.
Im Zusammenleben zwischen Maria und mir trafen zwei zu unterschiedliche Mentalitäten und Organisationsgeschwindigkeiten aufeinander, zwei völlig verschiedene Typen von Mensch: Auf der einen Seite war da die gelassene, etwas chaotische, äußerst gemütliche Südamerikanerin, auf der anderen Seite die durchgeplante, organisierte, gestresste Norddeutsche. Nach sechs Wochen habe ich aufgegeben. Maria war ein liebes Mädchen, aber sie war zu langsam, sehr schüchtern und sehr introvertiert. Das war nicht nur eine herbe Ernüchterung, es fiel mir auch ungemein schwer, es Maria zu sagen. Zum einen, weil ich mich verantwortlich für sie fühlte. Sie war aus ihrer Heimat hierhergekommen, hatte ihre Familie verlassen, um hier zu arbeiten. Sie hatte sonst keinen anderen außer uns, war buchstäblich mutterseelenallein. Zum anderen wusste ich, dass Maria sich bemühte, aber es veränderte sich zu wenig, zu langsam. Zu oft bin ich mit einem unsicheren Gefühl nach Berlin gefahren, fragte mich Dinge wie »Holt Maria auch pünktlich Leander und Linus ab?« oder »Denkt Maria daran, den Herd auszumachen, wenn sie den Jungs etwas gekocht hat?«. Es war eine zusätzliche Belastung. Phasenweise dachte ich, mich plötzlich um drei Kinder kümmern zu müssen.
Maria blieb bei uns, bis wir eine neue Familie für
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