Jenseits des Protokolls
abgeholt, doch kaum war es offiziell, dass Christian für das Amt kandidieren wird, war es mit dem be- und gekannten Alltag vorbei. Die Interviewanfragen seitens der Presse häuften sich, alle wollten sie wissen, wie es sich anfühlt, was ich denke und was ich erwarte.
Natürlich dachte ich über Christians Chancen nach, die Wahl zu gewinnen. Aber ich fand es schwierig, diese klar einzuschätzen. Mit meinem Mann und mit Joachim Gauck traten zwei sehr unterschiedliche Kandidaten gegeneinander an. Unterschiedlich zum einen vom Alter her, der eine zum Zeitpunkt der Wahl gerade einmal 51 Jahre, der andere bereits 70 Jahre. Unterschiedlich in Bezug auf Herkunft und beruflichen Background, der eine Anwalt aus Westdeutschland, der andere studierter Theologe aus Ostdeutschland. Der eine, mein Mann, lebte für die Politik, hatte dort eine erfolgreiche Karriere gemacht. Der andere, Joachim Gauck, war parteilos. Das ziemlich Einzige, was die beiden in meinen Augen verband, war, dass sie beide für ihr Thema brannten. Der eine, Christian, sah seine Mission darin, Menschen zusammenzubringen, gerade auch Menschen verschiedener Kulturen und Religionen. Bei Joachim Gauck drehte es sich vor allem um das Thema »Freiheit«. Ich empfand diese beiden Männer als so verschieden, dass ich mir selbst kein Urteil darüber bilden wollte und konnte, wer die besseren Karten haben würde.
In der Woche ab Montag, 28. Juni 2010, Linus und Leander waren bei meinen Eltern, wurden Christian und ich vom Bundespräsidialamt in ein Hotel in Berlin-Mitte eingemietet. Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes rückten an, überall wurden Überwachungskameras aufgestellt, überall standen Sicherheitsbeamte. Da schießt das Adrenalin schon durch den Körper. Es war befremdend, dass alle einen anschauten, versuchten, einen einzuschätzen, und mit den Blicken verfolgten. Ein leichtes Unbehagen regte sich in mir, doch vor allem war ich freudig angespannt, so kann man das Gefühl wohl beschreiben. Und so bin ich auch an dem Tag der Wahl, am Mittwoch, 30. Juni 2010, morgens gegen 6.30 Uhr aufgestanden. Annalena, Christians Tochter aus erster Ehe, hatte schulfrei und kam mit einer Freundin nach Berlin, auch Freunde aus Norderney reisten an, um die Wahl live zu verfolgen. Zunächst gab es um 9 Uhr einen ökumenischen Gottesdienst, bevor wir gegen kurz nach 11 Uhr im Reichstag ankamen. Es war seltsam, den Reichstag nicht als Besucherin zu betreten, sondern als ein Teil des Geschehens. Auf Schritt und Tritt verfolgten uns Journalisten und Kameraleute. Und dann, gegen 12 Uhr, begann die Wahl.
Während Christian unten, in der ersten Reihe des Plenarsaals, direkt neben Angela Merkel saß, hatte ich mit Annalena sowie ihrer Freundin und auch Daniela Schadt, der Lebensgefährtin von Joachim Gauck, auf der Ehrentribüne Platz genommen. Die nachfolgenden Stunden waren ein purer Nervenkrieg. Um 13.24 Uhr war der erste Wahlgang abgeschlossen. Um 14.07 Uhr stand das Ergebnis fest. Um 14.16 Uhr wussten wir: Christian ist durchgefallen. Es reichte im ersten Wahlgang nicht für die absolute Mehrheit. Um 23 Stimmen hatte er diese verpasst. Darum: Gegen 15.15 Uhr wurde der zweite Wahlgang eröffnet, gegen 16.15 Uhr war auch dieser zu Ende. Christian war angespannt. Während die Stimmen ausgezählt wurden, saßen wir im Büro des Bundestagspräsidenten. Dort hatten wir einen kleinen Bereich für uns. Wir verfolgten im Fernsehen gemeinsam die Berichterstattung, ich rief bei meinen Eltern an, erkundigte mich nach Leander und Linus, sprach mit Annalena über die Schule, wir versuchten uns abzulenken und die Emotionen nur nicht zu hoch kochen zu lassen. Etwa um 17.05 Uhr war klar: Es hatte wieder nicht gereicht. Christian sprach mit einigen Parteikollegen, ich ging kurz raus auf die Dachterrasse, um alleine zu sein. Um ein wenig die Anspannung in mir zu lösen und klare Gedanken fassen zu können. Ich spürte nach fast über sechs Stunden des ungewissen Wartens die körperliche Erschöpfung, aber auch noch immer das Adrenalin. Alleine zu sein, war unmöglich. Sogar auf die Dachterrasse folgten einem die Journalisten. Um 19.30 Uhr begann der dritte Wahldurchgang. Gegen 20.25 Uhr war auch dieser abgeschlossen. Und dann, um 21.15 Uhr, verkündete Bundestagspräsident Norbert Lammert: Mit 625 zu 494 Stimmen hatte Christian endlich die absolute Mehrheit erlangt. Obgleich einige von der SPD angesichts der drei nötigen Wahldurchgänge von einer »Klatsche« für Angela Merkel sprachen –
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