Jenseits von Raum und Zeit
sich neben mich und berührte einen Riß in meinem Anzug, den ich nicht bemerkt hatte. Ich erlitt einen mittleren Schock, als ich den eingerissenen Rand sah. Nicht einmal mit einem Gewehr konnte man dieses Material durchschießen, aber die Scheren dieser Biester hatten es beschädigt.
»Die Haut ist unverletzt«, sagte der Riese. »Sie haben heute einen glücklichen Tag, Carl Patton. Meist ist die Berührung der Scheren tödlich.«
Irgend etwas bewegte sich hinter ihm. Ich schrie auf und feuerte, und ein Skorpion stürzte auf die Stelle, wo Johnny einen Augenblick zuvor noch gestanden hatte. Ich warf mich zu Boden, überrollte mich, und jagte einen gezielten Schuß ins Auge der Bestie, gerade als Johnny Thunders Stange auf dieselbe Stelle hieb. Als ich wieder auf die Füße kam, sah ich, wie der Rest der Skorpionschar den Rückzug antrat und den Berg hinabstelzte.
»Sie verdammter Narr!« schrie ich den Riesen an. Meine Stimme kippte vor Zorn über. »Warum passen Sie nicht auf sich auf?«
»Ich stehe in Ihrer Schuld, Carl Patton.« Das war alles, was er sagte.
»Schuld, zum Teufel! Niemand schuldet mir etwas – umgekehrt auch nicht.«
Darauf gab er mir keine Antwort. Er blickte mich nur an und lächelte mir beruhigend zu wie einem aufgeregten Kind. Ich nahm ein paar tiefe Atemzüge aus meinem mit warmer, stärkender Luft gefüllten Tank und fühlte mich besser – aber nicht viel.
»Wollen Sie mir nicht Ihren wirklichen Namen sagen, kleiner Krieger?« fragte der Riese.
Ich spürte, wie sich ein Eisklumpen in meiner Brust bildete.
»Was meinen Sie damit?« stotterte ich.
»Wir haben Seite an Seite gekämpft. Es wäre angebracht, daß wir einander die geheimen Namen verraten, die unsere Mütter uns bei der Geburt gegeben haben.«
»Oh, also irgendein magisches Zeug, eh? Juju. Das geheime Wort unbesiegbarer Macht. Lassen Sie das, mein Freund. Johnny Thunder genügt mir völlig.«
»Wie Sie wollen – Carl Patton.« Er wandte sich ab, um nach seinem Hund zu sehen. Und ich untersuchte, wie stark mein Raumanzug beschädigt war. Der Beinschutz war teilweise vermindert, und auch die Wärmeregelung litt durch den Riß. Das war übel. Ich hatte noch eine ganze Menge Meilen zurückzulegen, bevor ich meinen Job erledigt hatte.
Als wir uns eine halbe Stunde später auf den Weg machten, wunderte ich mich noch immer, warum ich das Leben des Mannes gerettet hatte, den zu töten ich nach Vangard gekommen war.
15.
Nach drei Stunden machten wir eine Pause, um zu schlafen. Es war beinahe völlig dunkel, als wir uns in den Gruben zusammenrollten, die wir in den Schnee getrampelt hatten. Johnny Thunder behauptete, die Skorpione würden nicht zurückkehren, aber ich schwitzte in meinem isolierten Anzug, als das letzte Licht stockdunkler Nacht wich. Es war so schwarz wie in einem Sarg. Dann muß ich eingedöst sein, denn als ich erwachte, schien mir blauweißes Licht ins Gesicht. Cronus, der innere Mond, hatte sich über einem Felsblock erhoben, eine zerklüftete Scheibe, die so dicht über mir zu hängen schien, daß ich glaubte, mein Kopf würde dagegenstoßen, wenn ich aufsprang.
Im Mondlicht kamen wir gut voran, wenn auch der Aufstieg auf dem Gletscherhang beschwerlich war. Bei einer Höhe von fünfundvierzigtausend Fuß erreichten wir den Bergkamm und blickten über ein schattiges Tal zum nächsten Gipfel hinüber, der sich zwanzig Meilen entfernt silberweiß gegen den Sternenhimmel abhob.
»Auf der anderen Seite dieses Berges werden wir sie vielleicht finden«, sagte der Riese. Seine Stimme hatte etwas an Timbre verloren. Sein Gesicht sah erfroren aus. Als ob der eisige Wind jedes Gefühl darin betäubt hatte. Woola schmiegte sich an seine Beine. Sie wirkte zu Tod erschöpft und schien um Jahre gealtert.
»Sicher«, sagte ich. »Oder vielleicht hinter dem nächsten Berg. Oder hinter dem übernächsten.«
»Jenseits dieser Berge erheben sich die Gipfel von Nandi. Wenn Ihre Freunde dort gelandet sind, werden sie lange schlafen – und wir auch.«
Nach einem Zwei-Stunden-Marsch hatten wir den nächsten Bergkamm erreicht. Der Mond stand nun hoch genug, um die gesamte Aussicht zu beleuchten. Wir sahen nichts als Eis. Im Windschatten des Bergkamms kampierten wir, dann machten wir uns wieder auf den Weg. Der beschädigte Anzug machte mir bereits Schwierigkeiten, und in den Zehen meines rechten Fußes spürte ich schon den Frost, trotz der warmen konzentrierten Luft, die ich heimlich einsog, und trotz der
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