Jerry Cotton - 0522 - Das Maedchen mit dem Killerblick
5. Avenue. Im Parkgelände betrat er eine kleine Cafeteria und setzte sich an einen Tisch, an dem bereits eine Frau saß. Sie rührte in den flüssig gewordenen Resten einer Eisportion. Ihr Gesicht war stark geschminkt, aber unter dem Puder zeichneten sich Falten und eine Narbe am Kinn ab- Schön war nur noch ihr üppiges schwarzes Haar. Sie stak in einem zu knappen knallroten Jackenkleid. Ihre Finger waren mit billigen, unechten Ringen beladen.
»Hast du es?« zischte sie Regerty an. Er schüttelte den Kopf und bestellte bei dem Kellner einen Espresso. Ungeduldig wartete sie, bis der Kellner außer Hörweite war. »Hast du ihn nicht getroffen?«
»Ich traf ihn, aber er hatte nichts bei sich.«
»Weißt du es genau?«
»Ganz genau!« Der Kellner brachte den Espresso. Während er den Kaffee servierte, blickte die Frau, mit einer Mischung aus Grauen und Bewunderung auf Walt Regerty. Seine Worte bedeuteten, daß sie einem Mörder gegenübersaß, aber sie war weit davon entfernt, ihn deswegen zu verabscheuen.
Sie beugte sich vor. »Du mußt doch irgendeinen Fehler gemacht haben, Walt?«
Er schüttelte den Kopf. »Als ich Kossow erkannte, war für mich klar, daß sie immer noch nach der gleichen Methode arbeiten. Immer noch war Friess der Überbringer. Für solche Dienste ist er der ideale Typ. Er hat Geduld, ist unauffällig und absolut zuverlässig.« Er nahm einen Schluck Kaffee, sah die Frau über den Rand der Tasse hinweg an, verzog die Lippen und sagte: »Vielmehr war er das alles.« Er setzte die Tasse ab, zuckte die Achseln und fuhr fort: »Seine Taschen waren leer. Ich kann es nicht ändern.«
Die Frau erblaßte unter der Schminke. »Hast du schon mit Cornell gesprochen?«
Regerty schüttelte den Kopf. »Das hat Zeit. Wenn es geklappt hätte, so wollte ich dir das Zeug übergeben. Ich hielt es nicht für richtig, Mad Cornell mit vollen Taschen gegenüberzutreten.«
»Noch schlimmer, ihm leere Taschen zeigen zu müssen. Er hat fast zehntausend Dollar in diese Sache investiert.« Regerty schnippte mit den Fingern. »Ein Trinkgeld für ihn!«
»Cornell gibt auch Trinkgelder nicht ohne Gegenleistung.«
»Ich kann ihm nicht helfen. Jedes Geschäft kann fehlschlagen.«
Er trank seinen Kaffee aus. »Bringen wir es hinter uns, Francis. Ich habe mich genug mit harten Jungs herumgeschlagen. Auch Mad Cornell kann mir keine Angst einjagen.«
Dieses Mal nahmen sie ein Taxi. Schweigend saßen sie nebeneinander im Fond; Francis Nolan, eine verblühte Frau an der Schwelle des Alters, und Walt Regerty, ein Abenteurer, der vor einer halben Stunde einen Mord begangen hatte.
Mad Cornells Hauptquartier lag im Schatten der Brooklyrj-Bridge in der Dover-Street. Im Erdgeschoß und in den Anbauten des Hofes betrieb er das Geschäft, das zur Tarnung seiner Einkünfte diente: die Fish-Trade-Association. Über Laufbänder und Kettenförderer liefen die Kisten voller Eis und Fische, wurden auf Lastwagen verladen oder aus Kühltrucks umgepackt. Das Poltern der Kisten und die Flüche der Packer erfüllten den Hof in den frühen Vormittagsstunden. Ab Mittag herrschte Ruhe, wenn das Großhandelsgeschäft abgewickelt war. Zwei, drei Arbeiter hantierten dann mit Hochdruckschläuchen und spritzten die Abfälle in die großen Gullys. Trotzdem lag ständig ein penetranter Fischgestank über dem Gelände. An der Vorderfront hatte Cornell, der auch kleine Einnahmequellen nicht ungenutzt ließ, ein Geschäft eingerichtet, das Fisch an die Bewohner des Viertels verkaufte. Die Frauen der Docker des nahen Hafens, frisch eingewanderte Italiener und Leute aus dem Osten Europas, feilschten um Cornells Ware.
Mad Cornell bewohnte die dritte und letzte Etage des düsteren Hauses. Der Fischgestank wehte bis in seine Räume. Es störte ihn nicht. Sein strichschmaler Mund krümmte sich zu einem dünnen Lächeln, wenn seine Besucher Taschentücher vor Mund und Nase preßten, um dem allgegenwärtigen Geruch zu entgehen.
Cornell kontrollierte die wilde Prostitution und zahlreiche Kneipen und Spielhöllen im Hafenbezirk. Er war einer der heimlichen Herren der »Wasserfront«. Selbst der stiernackigste Hafenstauer ging ihm aus dem Wege, obwohl Mad Cornell ein eher schmächtiger Mann war, der immer einen makellos gebügelten blauen Anzug, ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte trug, die er täglich wechselte. Die randlose Brille und das kurzgeschnittene Haar machten sein Aussehen so unauffällig wie das eines Buchhalters. Nur wer ihm in die
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