Jerry Cotton - 0557 - Per Express in den Tod
vor, stieß gegen eine schmale Eisentreppe, erreichte mit zwei Sätzen die massive Stahltür, vor der die Treppe endete, und warf mich dagegen. Die Tür schlug auf. Ich stand auf dem Dach des Apartmenthauses. Das rotblaue Licht ging von einer mannshohen Neonreklame aus, die auf der Dachmitte errichtet war. Im Wechsel von blau und rot priesen die Buchstaben »Dacota Beer«.
Der Fremde in der Manchesterjacke hastete an den flackernden Buchstaben vorbei. Er rannte nach links, aber das Apartmenthaus stand isoliert. Es gab keine Verbindung zu den Dächern der Nachbarhäuser. Der Mann kehrte am Dachrand um. Ich stand schon im Licht der Neonreklame, und er stoppte hart, als er mich sah. Noch immer hielt er das Messer in der Hand.
»Ich denke, jetzt wirst du einsehen, daß es aus ist«, sagte ich. Länger als eine Minute standen wir uns gegenüber. Zum zweitenmal streckte ich die Hand aus. »Ich weiß nicht, wieviel du auf dem Kerbholz hast, aber auf jeden Fall kommst du besser davon, wenn du endlich das Messer herausgibst.«
»Verdammter Schnüffler!« knirschte er, holte aus und schleuderte das Messer. Ich sprang zur Seite. Das Messer traf eine Neonröhre, die knallend zersprang. Der Mann rannte auf den Dachrand zu und hetzte dann in langen Sätzen am Rand entlang. Ich sah, daß er zum Sprung ansetzte.
»Du bist verrückt!« rief ich. »Komm zurück!« Er reagierte nicht, sondern kauerte sich nieder. Bevor ich ihn erreichen konnte, ließ er sich fallen.
Ein rundes Dutzend Fuß unter uns lagen die Balkone der Apartments der zwölften Etage. Auf den ersten Blick schien es leicht, auf einen dieser Balkone zu springen, und genau das versuchte er. Doch er hatte den Sprung falsch berechnet. Er landete nicht auf dem Balkon, sondern streifte das Gitter. Für die Dauer eines Herzschlages sah es aus, als könne er sich halten, aber die Wucht des Falles war zu groß. Seine Finger glitten ab. Er brüllte auf, als er die Gewalt über seinen Körper verlor. Mit schlagenden Gliedern stürzte er in die Tiefe.
***
Ich raste die Stufen hinunter. Einige Dutzend Leute begegneten mir, aber noch hatten die Bewohner des Hauses nicht herausgefunden, was sich wirklich ereignet hatte. Auf der 5. Etage rannte ich zum Apartment E 28. Die Tür stand offen. Carmie Gill war verschwunden.
Ich wählte die Nummer der FBI-Zentrale. »Verbinden Sie mich mit Stanley«, sagte ich. Stanley koordinierte alle Bemühungen, die Mörder der Ingenieure, Chemiker und Kuriere zu finden. Sekunden später hörte ich Stanleys Stimme und seinen leichten Texas-Akzent.
»Cotton vom FBI New York«, sagte ich. »Sie wissen, daß ich versuche, die ■Rolle Hank Etherns zu spielen.«
»Bin genau informiert!«
»Ein Mann suchte mich auf, erkannte, daß ich nicht Ethern bin, floh und stürzte vom Dach. Er ist mit Sicherheit tot. Das Mädchen, das den Koffer übernahm, floh aus meiner Wohnung. Ich versuche, es zu finden. Schicken Sie Phil Decker mit der Washingtoner Mordkomission zum Tatort. Sagen Sie ihm, er soll unter allen Umständen auf mich warten!«
»Geht in Ordnung, Cotton«, antwortete Stanley. Ich legte auf, öffnete den Kleiderschrank und entnahm ihm Etherns private Cower-Pistole. Ich verließ mein Apartment. Fünf, sechs Bewohner waren inzwischen auf der 5. Etage zusammengelaufen. Wahrscheinlich lag es einfach an der Stunde, daß sich nicht viele Bewohner im Haus aufhielten, sondern die meisten zum Dinner oder zu irgendwelchen Vergnügungen unterwegs waren. Einer sprach mich im Vorbeigehen an. »Haben Sie ’ne Ahnung, was passiert ist?«
»Nein. Leider nicht die geringste Ahnung!«
Auf der Straße waren inzwischen einige Dutzend Menschen zusammengelaufen. Sie standen im dichten Kreis um den Körper des Verunglückten. Auch ein Polizist war schon zur Stelle. Er bemühte sich, die Neugierigen zurückzudrängen.
Um mich kümmerte sich niemand. Ich sah, daß Carmies alter Ford verschwunden war. Der geliehene Mercury Etherns stand einige Schritte weiter. Ich stieg ein und fuhr zur Maryland Avenue.
Govins Laden war geschlossen. Ein kunstvoll angebrachter kleiner Scheinwerfer beleuchtete von innen die Goldflitterbuchstaben »Friseur — Kosmetiksalon«. Ich rüttelte an der Glastür, aber ich rechnete nicht mit einem Erfolg. Ich wußte nicht, wo Carmie Gill wohnte, aber ich hatte auch keine Ahnung, wo ich diesen Harold Govin erreichen konnte.
Plötzlich flammte in der Tiefe des Ladens eine einzelne Lampe auf. Ein Mann in Hemdsärmeln kam auf die Glastür zu.
Weitere Kostenlose Bücher