Jerry Cotton - 0592 - Ein Bettler macht kein Testament
Smithers’ Körper krampfte sich zusammen. Ein letztes Aufstöhnen, dann war es aus.
Ich betrat das Büro. Neben dem Telefon hing ein Verzeichnis der Hausanschlüsse. Ich wählte die Nummer des Prokuristen Beatty und ließ mir Lieutenant Parker geben. Es dauerte eine Weile, bis er an den Apparat kam.
»Hier spricht Cotton. Wenn Sie die Reporter los sein wollen, schicken Sie sie mal in den Keller! Hier liegt nämlich die zweite Leiche.«
Parker stieß einen Fluch aus, den er nur in der Bowery aufgeschnappt haben konnte. Ehe er weitere Liebenswürdigkeiten von sich geben konnte, hatte ich bereits eingehängt.
***
»Aber das ist doch unmöglich!« Kopfschüttelnd starrte Lucas Tybell auf den Brief, drehte und wendete ihn und besah ihn von allen Seiten. Kein Absender, auch auf dem Kuvert nicht. Nachdenklich faltete er den Bogen zusammen und steckte ihn in die Brieftasche.
Tybell war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Als Anwalt passierte es ihm häufig, daß ihn die Gegenseite unter Druck zu setzen versuchte. Massive Drohungen waren ihm nichts Neues. Aber dieser Brief war nicht wie die anderen. Dieser Brief weckte in ihm Erinnerungen an eine Zeit, die er längst vergessen wähnte. Und Lucas Typbell wollte nicht an diese Zeit erinnert werden.
Am meisten beunruhigte ihn die Unterschrift. Es war natürlich eine Finte; Tinetto war längst tot. Der Name sollte ihm Angst einjagen. Aber wer, zum Teufel, verbarg sich dahinter? Aus dem übrigen Text ging nicht hervor, wieviel der Briefschreiber über seine Vergangenheit wußte. Es war ein auf Schockwirkung abgestimmter Drohbrief, der darin gipfelte, daß er, Tybell, nur noch höchstens 48 Stunden zu leben habe.
Na schön. Jemand wollte ihm ans Leder, und dieser Jemand war so zuvorkommend, ihm seine Absichten vorher mitzuteilen. Offensichtlich in der Hoffnung, daß er sich nun vor Angst in ein Loch verkriechen werde. Aber diesen Gefallen würde er ihm nicht tun.
Kurz vor acht Uhr abends verließ der Rechtsanwalt sein Büro. Er hatte noch eine Verabredung mit einem Klienten und wollte nicht zu spät kommen. Rasch legte er die 300 Meter zu seiner Garage zurück, kaufte unterwegs die noch druckfrische Ausgabe der Evening Standard und warf im Gehen einen Blick auf die Titelseite. Dann hielt er so plötzlich an, als sei er vor eine unsichtbare Mauer gerannt.
Mord im Fahrstuhl: Warenhausbesitzer und Millionär Fred Riddle erschossen!
Während links und rechts die Passanten an ihm vorbeiströmten, stand Tybell unbeweglich auf dem Bürgersteig und las Wort für Wort den gesamten Bericht.
Als er geendet hatte, steckte er die Zeitung in die Jackentasche und ging entschlossen zu seinem Wagen. Er würde heute abend nicht seinen Klienten treffen, wohl aber einen anderen Mann. Lucas Tybell hatte es auf einmal sehr eilig. 48 Stunden waren nicht viel Zeit.
***
Unser Plan war einfach. Ich würde in das Lagerhaus gehen, um Victor zu treffen, und Phil würde sich irgendwo draußen in der Nähe bereit halten. Der Witz an der Sache war, daß wir bereits eine Stunde früher als vereinbart am Treffpunkt aufkreuzen würden. So hatte ich genügend Zeit, mit auf das Treffen vorzubereiten und mich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Denn sobald Victor merkte, daß ich nicht Tony war, würde ich unverzüglich handeln müssen.
Wir parkten den Jaguar in einer Seitenstraße und gingen zu Fuß zum Kai hinüber. Es war 8.15 Uhr. In ein paar Minuten würde es vollständig dunkel sein.
»Da drüben muß essein«, sagte Phil und wies auf das verkommen aussehende zweistöckige Gebäude. »Für ein solches Rendezvous genau der richtige Ort.«
Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Das Haus stand abseits der Kais, wo griechische und französische Schiffe ankerten.
Wir warteten noch fünf Minuten, dann war die Dunkelheit vollkommen. Ich lockerte meinen 38er in der Schulterhalfter und nickte Phil zu. »Mach’s gut, alter Gauner!« flüsterte er mir nach, während ich um die Ecke verschwand.
Ich ging einmal vorsichtig um das Haus herum. Es gab zwei Eingänge. Einer befand sich auf der Rückseite. Er war verschlossen. Der Eingang an der Frontseite des Gebäudes bestand aus einer Tür, die in ein großes Tor eingelassen war. Ich drückte gegen die Tür. Sie quietschte leise, aber dann schwang sie mit einem energischen Knarren nach innen auf.
Um mich herum war es stockfinster. Ich zog die Tür hinter mir zu und glitt zur Wand. Es roch muffig hier drinnen. Bestimmt war hier jahrelang nicht
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