Jerry Cotton - 0592 - Ein Bettler macht kein Testament
Mädchen ihnen fassungslos den grausigen Fund gezeigt hatte.
»Das ist alles, was ich Ihnen im Moment dazu sagen kann, Mr. Cotton.« Der Prokurist nestelte unsicher an seiner Nickelbrille. Ich sagte ihm, es sei in Ordnung, und verlangte die Verkäuferin zu sehen. Beatty führte mich in ein Nebenzimmer, wo ein bleiches Mädchen auf einem Ledersofa lag. Eine Frau von etwa 40 Jahren saß bei ihr und schaute sie besorgt an.
»Das ist Mrs. Miller. Sie kennt sich in Erster Hilfe aus«, erklärte Mr. Beatty.
»Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten, Miß Thompson?« fragte ich. Mrs. Miller sah mich entrüstet an.
Aber das Mädchen nickte schwach. »Es geht mir schon viel besser. Der Schock, wissen Sie. Aber fragen Sie nur! Sie sind bestimmt von der Polizei.«
Ich stellte mich vor und bat Mrs. Miller, den Raum zu verlassen. Beleidigt rauschte sie ab.
Mit leiser Stimme berichtete Kate Thompson, wie sie auf den Fahrstuhl gewurtet hatte und wie er schließlich mit ihrem toten Chef im 13. Stockwerk angelangt war.
Ich überlegte. »Sie sagten, der Fahrstuhl sei von ganz unten gekommen. Wie tief führt er denn überhaupt hinunter?« Mr. Beatty schaltete sich ein. »Bis in den Keller. Es ist ein Aufzug, der nur vom Personal benutzt wird.«
Der Fall war klar. Wie ich von George Summers wußte, war Fred Riddle nach seinem Besuch bei Mr. High zunächst ziellos in der Stadt umhergefahren. Dann hatte er kurz seine Wohnung aufgesucht, um sich darauf zu Fuß in sein nahegelegenes Kaufhaus zu begeben. Im Erdgeschoß hatte er den Fahrstuhl betreten, aber der war statt nach oben zu seinem Büro nach unten in den Keller gefahren. Weil es außer Mr. Riddle noch einen Fahrgast gab — den Mörder. Tinetto hatte seine Drohung nur zu schnell wahr gemacht.
»Was befindet sich im Keller?« erkundigte ich mich.
»Das Lager. Falls die Bluttat dort unten geschehen ist, konnte der Mörder leicht entkommen. Es gibt da eine Ein- und Ausfahrt für Lieferwagen, die um diese Zeit noch geöffnet ist. Der alte Smithers verwaltet das Lager.«
Ich bedankte mich bei Miß Thompson und trat mit Beatty wieder auf den Flur hinaus. Die Mordkommission mit Lieutenant Parker war inzwischen eingetroffen.
Lautes Stimmengewirr drang von der Treppe her. Ein Schwarm von Männern, teils mit Fotoapparaten, teils mit Notizblöcken in der Hand, ergoß sich über den Flur. Es war an der Zeit, daß wir uns zurückzogen. Was sich hier versammelte, war ein rundes Dutzend der windigsten Kriminalreporter von New York.
Riddles Ermordung würde große Schlagzeilen machen. Er war ein bekannter Mann und steinreich obendrein. Dem Mord an Whistling Tate, diesem armen alten Teufel, hatten die Zeitungen eine Zehnzeilenmeldung gewidmet. Aber wenn die Reporter jetzt einen Zusammenhang witterten, würde auch diese Story noch einmal durch die Mangel gedreht. Unseren Nachforschungen wäre das alles andere als dienlich.
Ich gab Phil und George einen Wink. Da sich die Reporter wie ein Bienenschwarm sofort auf Lieutenant Parker stürzten, konnten wir uns unbeachtet absetzen.
Im Erdgeschoß verabschiedeten wir uns von. George. Er wollte ins Distriktgebäude fahren und dem Chef Bericht erstatten. Man sah ihm an, wie schwer ihm dieser Weg fiel. Wir verstanden ihn und drückten ihm wortlos die Hand.
Das Lager bestand aus einem großen kühlen Raum, an dem mehrere kleine Räume angrenzten. Auf der einen Seite fiel das letzte Licht des Tages herein. Es war die Stelle, wo sich die Lieferanteneinfahrt befand. Sonst herrschte schummeriges Zwielicht. In der Mitte befand sich der Fahrstuhlschacht.
Ich schaute mich suchend um. »Der Prokurist sagte etwas von einem Lagerverwalter. Wo steckt denn der Kerl?«
Phil Stimme hallte von der anderen Seite des großen Raumes herüber: »Hier bei mir. Ich fürchte nur, er wird dir nicht mehr viel sagen können.«
Mit drei Sätzen war ich bei Phil. Er kniete neben einem alten Mann, der auf der Schwelle eines kleinen Büroraumes mit Glaswänden lag. Er atmete schwer, und mit jedem Atemzug kam Blut aus seinem Mund. Ein Blick auf die Schußwunde in seiner Brust genügte, um zu erkennen, daß es mit ihm zu Ende ging.
Ich beugte mich ganz nah an sein Ohr. »Mr. Smithers, können Sie mich verstehen?«
Ein unmerkliches Kopfnicken war die Antwort. Dann bewegte er die Lippen und murmelte etwas, das ich nicht verstand.
»Lauter, Mr. Smithers, lauter!«
»Zwei Männer… mit einem Auto… ich wollte — wollte sie fragen, was sie hier…«
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