Jerry Cotton - 0592 - Ein Bettler macht kein Testament
mehr gelüftet worden.
Ich beschloß, direkt neben der Tür auf Victor zu warten. Warum sollte ich ihn mir nicht gleich nach seiner Ankunft greifen? Er würde ohnehin sofort merken, daß ich nicht Tony war.
Verdammt noch mal — was war das? Ein Geräusch hatte mich aufschrecken lassen, so laut, daß es unmöglich von einer Ratte verursacht werden konnte. Es kam aus dem Hintergrund des Raumes. Es mußte noch jemand außer mir in diesem Lagerhaus sein. Wer es auch immer sein mochte — er war mir zuvorgekommen.
»Victor?« rief ich halblaut. »Ich bin’s, Tony!«
»Hier bin ich, hier oben«, ertönte eine Stimme zu meiner Rechten. Im gleichen Augenblick blendete mich eine Lichtquelle von gewaltiger Leuchtkraft. Das mußte ein Suchscheinwerfer sein, wie sie die kleineren Boote und Barkassen im Hafen oft verwenden. Ich wollte den Arm heben, um meine Augen zu schützen, aber die Stimme hielt mich zurück: »Keine Bewegung! Wir wissen, daß Sie eine Waffe tragen. Die würde ich mir gern näher ansehen. Legen Sie sie auf die Kiste, die da drüben neben dem Pfeiler steht! Aber bevor Sie sich irgendeine Chance ausrechnen, denken Sie daran, daß mehr als nur ein Revolver auf Sie gerichtet ist!«
Das glaubte ich ihm unbesehen. Ich war blindlings in eine Falle getappt, und mein Freund Victor, den ich immer noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, hielt alle Trümpfe in der Hand. Eine schöne Bescherung! Mit Phil war vorläufig nicht zu rechnen. Nur Schüsse konnten ihn vor der verabredeten Zeit alarmieren. Dann allerdings war es wahrscheinlich zu spät, denn wenn ich meinen Revolver aus der Hand gab, konnten es nur die anderen sein, die schossen.
Aber mir blieb keine Wahl. Während ich betont langsam unter mein Jackett griff und den 38er zum Vorschein brachte, erwog ich sekundenlang, ob ich es wagen könnte, den Scheinwerfer auszuschießen. Ich unterließ es, denn das Wagnis war zu groß. Ich hatte nur einen Schuß. Wenn ich damit nicht traf, würde ich im nächsten Moment ein Sieb sein.
Mit spitzen Fingern hielt ich die Waffe gut sichtbar in die Höhe, ging die drei Schritte bis zur Kiste und legte das gute Stück vorsichtig nieder. Dann erklang wieder die schneidende Stimme von rechts oben.
»Jetzt wieder zurück zur Wand! So ist’s gut. Und nun heraus mit der Sprache! Wer sind Sie, und was wollen Sie?«
Ich antwortete mit einer Gegenfrage: »Wie haben Sie so schnell erkannt, daß ich nicht Tony bin?«
»Sie sind ein Idiot. Tony ist tot, also konnten Sie nicht Tony sein, der heute anrief. Aber mich interessierte natürlich, wer ein solches Interesse an ihm haben könnte, daß er nach Tonys Tod dessen Namen annimmt. Deshalb habe ich Sie herbestellt. Zum letztenmal: Wer sind Sie?«
Es kam jetzt darauf an, Zeit zu gewinnen! Ich versuchte ein Grinsen. »Und wenn ich es nicht verrate?«
Victor schwieg einen Augenblick, dann kam seine Stimme noch kälter als bisher aus der Dunkelheit. »Sie kommen sich wohl sehr mutig vor, verehrter Freund, nicht wahr? Ich werde Ihnen vorführen, was passiert, wenn Sie nicht auspacken werden. Miguell!«
Das letzte Wort war ein Befehl. Ich machte mich auf irgendeine Teufelei gefaßt und spannte die Muskeln, aber nichts geschah. Nichts — außer daß etwas zischend durch die Luft fuhr und glühend heiß meinen Oberschenkel versengte. Unmittelbar neben meinem Bein steckte zitternd ein schweres Wurfmesser in der Wand. Es mußte mit großer Kraft geschleudert worden sein, daß es selbst dort im Putz steckenblieb.
»Genügt Ihnen das?« Das war wieder Victor. »Miguel versteht sich aufs Messerwerfen. Wenn ich es will, rahmt er sie ein wie ein Ölgemälde. Immer haarscharf daneben. Aber nur, wenn ich es will, verstehen Sie? Miguel trifft nämlich auch ab und zu mal ganz gern. Er meint, sonst macht’s auf die Dauer keinen Spaß…«
Ich befand mich in einer verfluchten Zwickmühle. Dieser Victor würde zweifellos seine Drohung wahr machen und mich von seinem Messerkünstler an die Wand nageln lassen. Dazu mußte noch ein dritter Mann hier irgendwo sein, vermutlich hinter dem Scheinwerfer.
Es gab nur noch eins — die Wahrheit zu sagen. Es gibt auch in der New Yorker Unterwelt nicht viele, die abgebrüht genug sind, einen G-man zu töten. Denn jeder Gangster weiß, daß dies eine gnadenlose Jagd auf den Mörder auslösen würde.
»Also schön«, sagte ich, »ich will Ihnen reinen Wein einschenken. Ich heiße Cotton und bin G-man beim FBI. Ich suche jemand, den ich bei Ihnen zu finden
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