Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
ihrer Kolonie ein philanthropisches evangelikales Zentrum mit Krankenhaus, Waisenhaus, Suppenküche, Schule, Einkaufsladen und eigenem Fotoatelier. Mit ihrem Erfolg zogen die Overcomers die Feindschaft des Generalkonsuls Selah Merrill, eines antisemitischen Baptistenpredigers und Hobbyarchäologen, auf sich, der 20 Jahre lang alles in seiner Macht Stehende tat, um die Kolonie zu zerschlagen. Er diffamierte sie als Scharlatane und bezichtigte sie der Kindesentführung, antiamerikanischer Umtriebe und unzüchtiger Handlungen. Einmal drohte er den Gemeindemitgliedern gar damit, seine Garde zu schicken und sie auspeitschen zu lassen.
In der US-Presse wurde behauptet, die Kolonisten würden jeden Tag auf dem Ölberg Tee kochen, um für die Wiederkehr Christi bereit zu sein: »Sie halten ständig Milch warm«, hieß es in der Detroit News , »für die Ankunft ihres Herrn und Meisters, und Esel sind immer gesattelt, falls Jesus erscheint, und manche haben behauptet, sie wären unsterblich.« Die Overcomers beeinflussten in gewisser Weise auch die Architektur der Stadt, nachdem sie 1882 einen Helden des britischen Kolonialreichs kennen- und schätzengelernt hatten, der das imperialistische Bündnis von Bibel und Schwert verkörperte.
Nachdem er an der englisch-französischen Expedition im 2. Opiumkrieg und als Gouverneur im Sudan regiert hatte, ließ sich General Charles Gordon, auch China Gordon genannt, im außerhalb von Jerusalem gelegenen Dorf Ein Kerem, dem Geburtsort von Johannes dem Täufer, nieder. Er kam jedoch oft in die Stadt, um die Bibel zu studieren und den Blick vom Dach des ursprünglichen Hauses der Kolonie zu genießen. Dabei gelangte er zu der Überzeugung, dass es sich bei dem gegenüberliegenden Hügel, dessen Form einem Totenschädel ähnelte, um den Berg Golgata handeln müsse, und er vertrat diese Ansicht mit einer solchen Überzeugungskraft, dass viele Protestanten das sogenannte Gartengrab noch heute für die eigentliche Grabstätte Jesu halten. [215] Die Overcomers taten unterdessen Gutes an den vielen seelisch instabilen Pilgern, die Bertha Spafford als »schlichte Gemüter in Allahs Garten« bezeichnete. »Jerusalem«, schrieb sie in ihren Lebenserinnerungen, »zieht religiöse Fanatiker und Sonderlinge in allen Stadien geistiger Verwirrung an.« Da gab es amerikanische Landsleute, die sich für »Elija, Johannes den Täufer oder einen anderen Propheten hielten, und in der Stadt liefen etliche Messiasse herum«. Einer von denen, die sich für Elija hielten, versuchte, Horatio Spafford mit einem Stein zu erschlagen; ein Texaner namens Titus hielt sich für einen Welteroberer, musste jedoch in seine Schranken verwiesen werden, weil er die Dienstmädchen zu begrapschen pflegte. Dann gab es noch eine reiche holländische Gräfin, die ein Haus für die 144 000 versiegelten Seelen aus Kapitel sieben der Offenbarung bauen wollte. Aber nicht alle Amerikaner, die sich in Jerusalem aufhielten, waren christliche Hebräisten. Generalkonsul Merrill waren die Juden ebenso verhasst wie die Overcomers, und er bezeichnete sie als eine überhebliche, geldbesessene »Rasse von Schwächlingen, aus denen man weder Soldaten noch Kolonisten noch Bürger machen« könne.
Mit ihrer fröhlichen Art und ihren mildtätigen Werken machten sich die Overcomers allmählich in allen Glaubensgemeinschaften Freunde, und die amerikanische Kolonie wurde zur ersten Anlaufstelle für reisende Schriftsteller, gutbetuchte Jerusalempilger und Potentaten. Selma Lagerlöf, die während ihres Aufenthalts in der Stadt bei den Spaffords wohnte, machte die Kolonie mit ihrem Roman Jerusalem berühmt. Als Baron Plato von Ustinow (der Großvater des Schauspielers Peter Ustinov), der ein Hotel in Jaffa betrieb, in der amerikanischen Kolonie nachfragte, ob einige seiner Gäste dort untergebracht werden könnten, war die Idee zur Einrichtung eines Hotels geboren. [156] Doch obwohl Jerusalem sich durch westliche Einflüsse verändert hatte, war gegen Ende des 19. Jahrhunderts die beherrschende Kraft in der Stadt Russland, das Reich der orthodoxen Bauern und verfolgten Juden, die es gleichermaßen nach Jerusalem zog und die von Odessa aus mit denselben Schiffen reisten.
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Russen
1880 – 1898
Grossfürst Sergei und Grossfürstin Ella
Russische Jerusalempilger, darunter viele Frauen, legten den langen Weg von ihren Dörfern nach Odessa oft zu Fuß zurück. Sie trugen »dick wattierte Mäntel und pelzgefütterte Jacken und Schaffellmützen«,
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