Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
die Frauen dazu noch »vier bis fünf Unterröcke und graue Tücher auf dem Kopf«. Sie brachten ihre Totenhemden mit und reisten in dem Gefühl nach Jerusalem, dass »nach dieser Pilgerfahrt alle ernsthaften Bemühungen ihres Lebens ein Ende haben würden«. So beschrieb es der englische Journalist Stephen Graham, der perfekt Russisch sprach und sich, als russischer Bauer mit struppigem Bart getarnt, einer solchen Gruppe von Pilgern anschloss. Und er fuhr fort: »Denn der orthodoxe Bauer reist nach Jerusalem, um in Russland auf eine bestimmte Weise zu sterben – so wie die ganze Sorge des Protestanten dem Leben gilt.«
Sie fuhren in den »dunklen und schmutzstarrenden Frachträumen« staatlich subventionierter Schiffe. »Einmal, als ein Sturm tobte, war es in den Frachträumen, in denen die Bauern herumgeschleudert wurden wie Leichen oder sich haltsuchend aneinanderklammerten, schlimmer, als man sich eine Kohlengrube vorstellt, und der Gestank war schrecklicher als jedes Feuer!« In Jerusalem wurden sie von einem »montenegrinischen Riesen in der prachtvollen Uniform der Russischen Palästina-Gesellschaft – rot-grünem Mantel und Reithosen – in Empfang genommen und durch die Straßen Jerusalems geführt«, in denen es von »fast nackten und unsagbar hässlichen arabischen Bettlern« wimmelte, die »nach ein paar Kupfermünzen schrien«. Sie wohnten für »drei Pence pro Tag in großen, überfüllten Schlafsälen im russischen Viertel, in den Speisesälen gab es Kascha und Kohlsuppe zu essen und Kwas zu trinken. Es waren so viele Russen in der Stadt, dass die »arabischen Jungen außen an der Mauer entlangrannten und auf Russisch riefen: ›Moskauer sind gut!‹«.
Während der Überfahrt flüsterte man sich leise zu: »Wir haben einen geheimnisvollen Passagier an Bord.« Bei der Ankunft riefen die Pilger: »Preis sei dir, o Gott!«, und später sagten sie: »Es ist ein geheimnisvoller Pilger in Jerusalem«, und manche behaupteten, Jesus am Goldenen Tor oder an der Klagemauer gesehen zu haben. »Sie brachten eine Nacht am Grab Jesu zu«, wusste Graham zu berichten, »und löschten das heilige Feuer mit den Kappen, die sie im Sarg tragen werden.« Doch sie fühlten sich zunehmend abgestoßen von »Jerusalem, der weltlichen Stadt, diesem Tummelplatz für reiche Touristen« und vor allem von der »gewaltigen, fremdartigen, schmutzigen und verderbten« Kirche, »diesem Schoß des Todes«. Sie suchten Zuflucht bei dem Gedanken, dass sie Jesus finden würden, wenn sie »aufhörten, auf Jerusalem zu schauen, und sich stattdessen dem Evangelium öffneten«. Aber ihr heiliges Russland selbst veränderte sich: Nachdem Alexander II. 1861 die Leibeigenschaft aufgehoben hatte, wurden Wünsche nach Reformen laut, die der Kaiser nicht erfüllen konnte, worauf Anarchisten und Sozialisten Jagd auf ihn machten. Bei einem Attentatsversuch zog Alexander selbst die Pistole und feuerte auf die Angreifer. Im Jahr 1881 wurde er schließlich in Sankt Petersburg von Radikalen mit einer Sprengbombe getötet.
Schnell machte das Gerücht die Runde, an dem Attentat seien Juden beteiligt gewesen (tatsächlich gehörte eine Jüdin zum Kreis der Terroristen, aber unter den Attentätern war kein einziger Jude). Daraufhin kam es mit Wissen der Regierung und manchmal auch von dieser initiiert in ganz Russland zu blutigen Angriffen auf jüdische Gemeinden. Die Massenmorde brachten in der westlichen Welt einen neuen Begriff hervor: Pogrom, vom russischen gromit , »zerstören«. Alexander III., der Nachfolger auf dem Kaiserthron, war ein bärtiger Riese, engstirnig und konservativ. Für ihn waren Juden »ein Krebsgeschwür der Gesellschaft« und selbst schuld daran, dass sie von ehrlichen orthodoxen Russen verfolgt wurden. Die Maigesetze, die er 1882 verkündete und deren Einhaltung er von der Geheimpolizei überwachen ließ, machten den Antisemitismus [216] praktisch zum Bestandteil der Regierungspolitik.
Der Kaiser glaubte, das heilige Russland durch autokratische Herrschaft und eine auf Jerusalem gerichtete Orthodoxie erhalten zu können. Um »die Orthodoxie im Heiligen Land zu stärken«, machte er seinen Bruder Sergei Alexandrowitsch zum Vorsitzenden der Kaiserlich-Orthodoxen Palästina-Gesellschaft.
Am 28. September 1888 weihte dieser in Anwesenheit seiner 23-jährigen Frau Ella, Königin Victorias bildhübscher Enkelin, auf dem Ölberg die Maria-Magdalena-Kirche mit ihren sieben vergoldeten Zwiebeltürmen ein. Beide waren tief
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