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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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von Dienern getragenen Baldachin im Schein von brennenden Fackeln und von einem Trommler und Flötenspielern begleitet zum Tempelberg.
    Die Familien der muslimischen Notabeln bildeten die Oberschicht der Jerusalemer Gesellschaft. Das erste Oberhaupt der Stadtregierung war ein Dajani, und 1867 wurde der 27-jährige Yusuf al-Khalidi der erste Bürgermeister von Jerusalem. Seither wurde dieses Amt immer von Mitgliedern der führenden Familien bekleidet – darunter sechs Husseinis, vier Alamis, zwei Khalidis und drei Dajanis. Yusuf, dessen Mutter zur Husseini-Familie gehörte, war als Junge von zu Hause weggelaufen, um auf Malta eine protestantische Schule zu besuchen. Später trat er in Istanbul in die Dienste des liberalen Großwesirs. Er sah sich selbst zuallererst als Jerusalemer (Jerusalem nannte er sein »Heimatland«), dann als Araber (und als Shami, als Bewohner von Shams al-Bilad, also von Großsyrien) und erst an dritter Stelle als Osmane. Er war ein Intellektueller und einer der führenden Köpfe der Nahda, der arabischen Renaissance der Sprache und Literatur, in deren Zuge Kulturklubs eröffnet und Zeitungen und Verlage gegründet wurden. [210] Doch als Bürgermeister von Jerusalem musste er feststellen, dass mit dem Amt nicht nur Verwaltungsarbeit, sondern auch kämpferischer Einsatz verbunden war: Der Gouverneur schickte ihn mit 40 Kavalleristen los, um Aufstände in Kerak niederzuschlagen. Wahrscheinlich war er der einzige Bürgermeister in der Geschichte der Neuzeit, der je eine Reiterschwadron in den Kampf geführt hat.
    Jede Notabelnfamilie hatte ihr eigenes Banner und ihre spezielle Funktion bei den Festlichkeiten der Stadt. Am Tag des heiligen Feuers trugen die 13 führenden christlichen Araberfamilien ihre Banner in feierlicher Prozession durch die Stadt. Doch am beliebtesten war das Nabi-Musa-Fest, zu dem Tausende von Menschen zu Fuß und zu Pferde aus ganz Palästina herbeiströmten und vom Mufti, meist einem Husseini, und dem osmanischen Gouverneur begrüßt wurden. Die Straßen hallten von fröhlichem Lärmen, Singen und Trommeln wider, Sufi-Derwische vollführten ihre Tänze – »manche verschluckten glühende Kohlen oder trieben sich Nägel durch die Wangen –, und manchmal kam es zu Schlägereien zwischen den Bewohnern von Jerusalem und denen von Nablus. Manchmal passierte es auch, dass ein paar arabische Hitzköpfe auf Juden und Christen losgingen. Auf dem Tempelberg wurde die Menge von Böllerschüssen begrüßt, anschließend kamen die Husseinis zu Pferde und führten, ihr grünes Banner schwenkend, die Menschen zum Grab Baibars in der Nähe von Jericho. Die Dajanis schwenkten ihre scharlachrote Fahne am Davidsgrab. Doch die Notabelnfamilien, von denen jede ihren eigenen Zuständigkeitsbereich hatte – die Husseinis den Tempelberg, die Khalidis die Gerichtsbarkeit und beide im Wechsel das Bürgermeisteramt –, stritten nach wie vor um die führende Rolle in der Stadt und spielten das gefährliche Spiel der politischen Einflussnahme in Istanbul. Die orthodoxen Balkanslaven forderten, unterstützt von den Russen, ihre Unabhängigkeit; das Osmanische Reich kämpfte um sein Überleben. Nach der Thronbesteigung des mächtigeren Sultans Abdülhamid II. kam es zu Massakern an bulgarischen Christen. Unter dem Druck der russischen Regierung stimmte Abdülhamid einer Verfassung und der Einführung eines parlamentarischen Systems zu: In Jerusalem repräsentierten die Husseinis die alte Autokratie, während die Khalidis die liberale Reformbewegung unterstützten. Bürgermeister Khalidi reiste als Gesandter Jerusalems nach Istanbul, doch die Verfassung war nur ein Täuschungsmanöver. Abdülhamid setzte sie schon nach kurzer Zeit wieder außer Kraft und propagierte stattdessen einen neuen osmanischen Nationalismus, gepaart mit einem Bekenntnis zum panislamischen Kalifat. Dieser kluge, aber neurotische Sultan, kleingewachsen, mit weinerlicher Stimme und zu Ohnmachtsanfällen neigend, setzte seine Politik mit Hilfe einer gut organisierten Geheimpolizei durch, von der er unter anderem seinen Großwesir und eine seiner Sklavinnen ermorden ließ. Ausgestattet mit allen Privilegien seines Standes – in seinem Harem tummelten sich 900 Odalisken –, lebte er dennoch in ständiger Angst und sah jeden Abend vor dem Schlafengehen unter dem Bett nach, ob kein Mörder darunter lauerte. Gleichzeitig war er ein geschickter Zimmermann, las gerne Sherlock Holmes und hatte sich sein eigenes Theater

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