Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Demokratie ist von lautstarker Vielfalt und Säkularität, dennoch sind die USA die letzte und vermutlich die größte christliche Großmacht aller Zeiten – und ihre Evangelikalen erwarten weiterhin die Endzeit in Jerusalem, während die US-Regierung ein ruhiges Jerusalem als Schlüssel zum Frieden im Nahen Osten und als strategisch wichtig für ihre Beziehungen zu ihren arabischen Verbündeten ansieht. Auf der anderen Seite hat Israels Herrschaft über al-Quds die muslimische Verehrung für die Stadt intensiviert: In der Darstellung des iranischen Jerusalemtags, den Ayatollah Khomeini 1979 eingeführt hat, ist die Stadt mehr als nur ein islamisches Heiligtum und die palästinensische Hauptstadt. In Teherans atomar untermauertem Anspruch auf regionale Hegemonie und in Irans kaltem Krieg mit Amerika bietet Jerusalem eine praktische Möglichkeit für einen Zusammenschluss iranischer Schiiten und arabischer Sunniten, die den Ambitionen der Islamischen Republik skeptisch gegenüberstehen. Für die schiitische Hisbollah im Libanon wie auch für die sunnitische Hamas im Gazastreifen dient die Stadt nun als Totem des Antizionismus, Antiamerikanismus und der iranischen Führungsrolle, hinter dem sich die diversen Kräfte sammeln. »Das Regime, das Jerusalem besetzt hält, muss aus den Annalen der Geschichte getilgt werden«, sagt Präsident Mahmoud Ahmadinejad. Auch er glaubt an die bevorstehende Rückkehr des »gerechten, vollkommen menschlichen Al-Mahdi des Auserwählten«, des »okkulten« Zwölften Imam, der Jerusalem befreien und damit eine Voraussetzung schaffen wird für »die Stunde«, wie der Koran es nennt.
Diese eschatologisch-politische Überfrachtung rückt das Jerusalem des 21. Jahrhunderts, die Auserwählte Stadt dreier Religionen, ins Fadenkreuz aller dieser Konflikte und Visionen. Jerusalems apokalyptische Rolle mag übertrieben werden, aber während die arabische Welt sich im Umbruch befindet, lastet diese einzigartige Kombination von Macht, Glaube und Mode, die sich im grellen Scheinwerferlicht der Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensendungen abspielt, mit hohem Druck auf den empfindlichen Steinen der universalen Stadt, die wieder einmal in mancherlei Hinsicht das Zentrum der Welt ist.
»Jerusalem ist ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann«, warnte König Abdullah II. von Jordanien, der Urenkel Abdullahs I., 2010. »Alle Wege in unserem Teil der Welt, alle Konflikte führen nach Jerusalem.« Aus diesem Grund muss der Präsident der Vereinigten Staaten die verschiedenen Seiten selbst in den ungünstigsten Momenten zusammenbringen. Die Friedensbewegung in der israelischen Demokratie ist im Niedergang, die brüchigen Regierungskoalitionen sind von übermächtigen religiös-nationalistischen Parteien beeinflusst; auf der anderen Seite bemühen sich die zerstrittenen palästinensischen Lager, durch den arabischen Frühling ermutigt, ihre äußerst unterschiedlichen Programme – das konziliante, säkulare der Fatah und das militante, islamistische der Hamas – soweit in Einklang zu bringen, dass sie einen vereinten palästinensischen Staat bilden können. Während das von der Fatah verwaltete Westjordanland zunehmend aufblüht, ist die dynamischste palästinensische Organisation die Hamas, die den Gazastreifen verwaltet und weiterhin die Vernichtung Israels anstrebt. Sie setzt Selbstmordanschläge als bevorzugte Waffe ein und beschießt in regelmäßigen Abständen Südisrael mit Raketen, was Übergriffe Israels provoziert. Europäer und Amerikaner stufen sie als terroristische Organisation ein, und was ihre Bereitschaft angeht, eine Friedensregelung auf der Basis der Grenzen von 1967 zu unterstützen, gab es bislang gemischte Signale. Auch wenn hoffentlich irgendwann eine demokratische Regierung aus Wahlen hervorgehen wird, ist doch unklar, ob die Zusammenarbeit der beiden Lager so weit gelingen kann, dass sie für Israel zu einem zuverlässigen Gesprächspartner werden; ebenso ungeklärt ist, wie die Hamas ohne Gewaltverzicht und ohne die Anerkennung des jüdischen Staates zu einem vertrauenswürdigen Partner in Bezug auf Israel werden kann. Zudem werden sich wie immer in der Geschichte die turbulenten Entwicklungen in Ägypten und Syrien – und die anderen Revolutionen, die Veränderungen in der arabischen Welt bewirken – auf Jerusalem auswirken.
Die Geschichte der Verhandlungen seit 1993 und die Kluft zwischen hehren Worten und dem von Misstrauen und Gewalt geprägten Handeln lässt auf beiden
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