Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
jüdische Siedlungen, und zwar unterstützt von der gesamten Staatsmacht und der Stadtverwaltung und vehement gefördert von Leuten mit der wilden Entschlossenheit eines göttlichen Sendungsbewusstseins. Der aggressive Siedlungsbau, der darauf abzielt, arabische Wohngebiete zu kolonisieren und jedes Friedensabkommen über ein Zusammenleben in der Stadt zu sabotieren, und die systematische Vernachlässigung der Versorgungseinrichtungen und des Wohnungsbaus in arabischen Wohngegenden hat selbst die harmlosesten jüdischen Projekte in Verruf gebracht.
Israel sieht gegenwärtig zwei Möglichkeiten: die Jerusalemer Option eines religiös-nationalistischen Staates, im Gegensatz dazu den Weg des liberalen, westlich geprägten Tel Aviv, das den Spitznamen »the Bubble« trägt. Es besteht die Gefahr, dass das nationalistische Projekt in Jerusalem und der obsessive Siedlungsbau im Westjordanland Israels eigene Interessen so entstellen könnten, dass sie dem Land mehr schaden als sie dem jüdischen Jerusalem nützen. [282] Völlig abgesehen von der wechselnden öffentlichen Meinung hat Israel das gleiche Recht auf Sicherheit und Wohlstand wie jedes andere Land – auch wenn Jerusalem nicht irgendeine Hauptstadt ist. Einige der Siedlungen untergraben Israels – gemessen an der Geschichte – einzigartig imposante Bilanz als Hüter eines Jerusalem aller Glaubensrichtungen. »Zum ersten Mal in der Geschichte können heute Juden, Christen und Muslime ungehindert an ihren Heiligtümern beten«, schrieb Elie Wiesel 2010 in einem offenen Brief an den US-Präsidenten Obama, im demokratischen Israel entspricht das größtenteils der Wahrheit.
Sicher ist es das erste Mal seit 70 n.Chr., dass Juden ungehindert dort beten können. Unter christlicher Herrschaft durften Juden sich nicht einmal der Stadt nähern. In den Jahrhunderten islamischer Herrschaft waren Christen und Juden als Dhimmis geduldet, wurden aber häufig unterdrückt. Die Juden, die im Gegensatz zu den Christen keine Unterstützung durch die europäischen Großmächte hatten, wurden oft schlecht behandelt – allerdings nie so schlecht, wie es schlimmstenfalls im christlichen Europa der Fall war. Juden drohte der Tod, wenn sie sich den islamischen oder christlichen heiligen Stätten näherten, aber jeder durfte einen Esel durch die schmale Gasse vor der Westmauer treiben, die Juden praktisch nur mit Genehmigung betreten durften. Selbst im 20. Jahrhundert schränkten die Briten den Zugang zur Westmauer stark ein, und die Jordanier verboten ihn völlig. Aber dank »der Lage«, wie Israelis es nennen, gilt die von Elie Wiesel behauptete Religionsfreiheit für Nichtjuden nicht immer, denn sie sind einer Fülle bürokratischer Schikanen ausgesetzt, und die Sperrmauer erschwert es Palästinensern des Westjordanlands, nach Jerusalem zu kommen, um in der Grabeskirche oder der al-Aqsa-Moschee zu beten.
Wenn Juden, Muslime und Christen nicht in Konflikt miteinander liegen, betreiben sie die uralte Jerusalemer Vogel-Strauß-Politik, stecken den Kopf in den Sand und tun so, als gebe es »die Anderen« gar nicht. Als im September 2008 die jüdischen Hohen Feiertage und der Ramadan zeitlich zusammenfielen, gab es in den Gassen einen »monotheistischen Verkehrsstau«, weil Juden und Araber zum Gebet auf den Tempelberg und an die Westmauer strömten; »es wäre allerdings falsch, von angespannten Begegnungen zu sprechen, denn im Grunde sind es keine Begegnungen«, schilderte Ethan Bronner in der New York Times . »Es werden keine Worte gewechselt; [sie] schauen aneinander vorbei. Die Gruppen ziehen nachts aneinander vorbei wie Parallelwelten mit unterschiedlichen Namen für jeden Ort und jeden Moment, den beide für sich beanspruchen.«
Nach den galligen Maßstäben Jerusalems ist diese Vogel-Strauß-Politik ein Zeichen der Normalität – zumal die Stadt noch nie eine so große globale Bedeutung besaß. Heute ist Jerusalem der Kampfplatz des Nahen Ostens, das Schlachtfeld des westlichen Säkularismus gegen islamischen Fundamentalismus, ganz zu schweigen vom Kampf zwischen Israel und Palästina. New Yorker, Londoner und Pariser haben den Eindruck, in einer atheistischen, säkularen Welt zu leben, in der man sich über organisierte Religion und ihre Gläubigen bestenfalls leicht mokiert, aber die Zahl der fundamentalistischen Endzeitgläubigen unter Christen, Juden und Muslimen nimmt zu.
Jerusalems apokalyptische und politische Rolle wird immer stärker befrachtet. Amerikas strotzende
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