Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Hinsicht so liebenswert, in anderer so hasserfüllt ist, nur so strotzt von Heiligem und Taktlosem, von grotesk Vulgärem und ästhetisch Erlesenem, scheint intensiver zu leben als jeder andere Ort; alles bleibt gleich, und doch steht nichts still. Jeden Tag im Morgengrauen erwachen die drei heiligen Stätten der drei Abrahamitischen Religionen auf ihre jeweils eigene Art zum Leben.
Heute Morgen
Um 4 Uhr wacht Shmuel Rabinowitz, Rabbi der Westmauer und der heiligen Stätten, auf und beginnt sein tägliches rituelles Gebet damit, in der Thora zu lesen. Dann geht er durch das jüdische Viertel zur Westmauer, die niemals schließt und deren kolossale herodianische Hausteine in der Dunkelheit schimmern. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch beten dort Juden.
Der 40-jährige Rabbi aus einer russischen Einwandererfamilie, die vor sieben Generationen nach Jerusalem kam, stammt von Familien der orthodoxen Gerrer und Lubawitsch-Chassidim ab. Der siebenfache Vater mit Bart, Brille und blauen Augen, schwarzem Anzug und Kippa geht durch das jüdische Viertel, ob es kalt oder heiß ist, regnet oder schneit, bis er die Mauer Herodes’ des Großen vor sich aufragen sieht. Jedes Mal stockt ihm das Herz, wenn er sich der »größten Synagoge der Welt« nähert. »Es gibt keine weltliche Art, die persönliche Verbindung zu diesen Steinen zu beschreiben. Das ist spirituell.«
Hoch über Herodes’ Mauersteinen stehen der Felsendom und die al-Aqsa-Moschee auf dem Berg des Hauses Gottes, wie die Juden ihn nennen; aber »es ist Platz für uns alle«, sagt der Rabbi, der jedes Vordringen auf den Tempelberg entschieden ablehnt. »Eines Tages baut Gott den Tempel vielleicht wieder auf – aber es ist nicht Sache des Menschen, sich einzumischen. Das ist allein Gott vorbehalten.«
Als Rabbi ist er dafür zuständig, die Mauer sauber zu halten: Die Fugen stecken voller Zettel, die Gläubige geschrieben haben. Zweimal jährlich – vor Passah und Rosch Haschana – sammelt er die Zettel ein und begräbt sie auf dem Ölberg, weil sie als heilig gelten.
Wenn er bei Sonnenaufgang die Mauer erreicht, beten dort bereits annähernd 700 Juden, aber er sucht sich immer dieselbe Gruppe Betender – minyan –, die an derselben Stelle der Mauer steht: »Es ist wichtig, ein Ritual zu haben, so dass man sich auf die Gebete konzentrieren kann.« Er begrüßt diese Gruppe jedoch nicht, nickt vielleicht kurz, spricht aber kein Wort – »das erste Wort gehört Gott« –, während er die Gebetsriemen, Tefillin, um den Arm wickelt. Dann spricht er das Morgengebet, Schacharit, das mit den Worten endet: »Er lasse Frieden walten über uns und ganz Israel.« Erst anschließend begrüßt er seine Freunde. Der Tag an der Mauer hat begonnen.
Kurz vor 4 Uhr, wenn Rabbi Rabinowitz im jüdischen Viertel gerade aufsteht, streift ein Steinchen das Fenster von Wajeeh al-Nusseibeh in Sheikh Jarrah. Wenn er die Tür öffnet, reicht der 80-jährige Aded al-Judeh ihm einen schweren, alten, 30 Zentimeter langen Schlüssel. Der 60-jährige Nusseibeh, Sprössling einer der vornehmsten Familien Jerusalems, ist bereits angezogen und geht in Anzug und Krawatte zügigen Schritts durch das Damaskustor zur Grabeskirche. [284]
Nusseibeh, seit über 25 Jahren Hüter der Grabeskirche, trifft um Punkt 4 Uhr morgens dort ein und klopft an das alte, hohe Portal in Melisendes romanischer Fassade. In der Kirche, die er am Abend zuvor um 20 Uhr abgeschlossen hat, haben die Küster der Griechen, Lateiner und Armenier bereits ausgehandelt, wer an diesem Tag die Tür öffnen soll. Die Priester der drei vorherrschenden christlichen Religionsgemeinschaften haben die Nacht in jovialer Kameradschaft mit Gebeten verbracht. Um 2 Uhr nachts beginnen die dominierenden Orthodoxen, die in allem die Ersten sind, mit ihrer Messe; acht Priester singen auf Griechisch am Grab, bevor sie es den Armeniern für ihren armenischen Gottesdienst, den badarak , überlassen, der gerade anfängt, wenn die Türen geöffnet werden; die Katholiken sind gegen 6 Uhr an der Reihe. Inzwischen verrichten alle anderen Konfessionen ihre Morgengebete. Nur ein Kopte darf über Nacht bleiben, aber er betet allein im alten koptischen Ägyptisch.
Wenn die Türen geöffnet werden, beginnen die Äthiopier, die ihr Kloster unter dem Dach und die Michaelkapelle mit einem Eingang rechts neben dem Hauptportal haben, mit ihrem amharischen Gottesdienst; er dauert so lange, dass sie sich auf die Hirtenstäbe stützen, die in
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