Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
den Muslimen die Oberfläche des Tempelbergs zu geben und den Israelis die Tunnel und Zisternen darunter (und damit auch den Grundstein des Tempels). Die ungemein komplexen Protokollarien dieser dämmrigen Welt unterirdischer Höhlen, Gänge und Kanäle sind atemberaubend, aber auch typisch für Jerusalem: Wem gehört das Erdreich, wem die Erdoberfläche, wem der Himmel?
Kein Abkommen wird zustande kommen oder Bestand haben, wenn nicht noch ein anderes Element hinzukommt. Das politische Hoheitsgebiet lässt sich auf einer Landkarte einzeichnen, in rechtlich bindenden Verträgen festlegen, mit Waffengewalt durchsetzen, wird aber ohne die historische, mystische und emotionale Dimension immer ergebnis- und bedeutungslos bleiben. »Zwei Drittel des arabisch-israelischen Konflikts ist Psychologie«, sagte Sadat. Die tatsächlichen Bedingungen für Frieden bestehen nicht nur in der detaillierten Festlegung, welche herodianische Zisterne Palästinensern oder Israelis zugesprochen wird, sondern in einem aufrichtigen gegenseitigen Vertrauen und Respekt. Auf beiden Seiten gibt es manche, die die Geschichte des anderen leugnen. Wenn dieses Buch überhaupt eine Mission verfolgt, dann hoffe ich inständig, dass es jede Seite ermutigt, das uralte Erbe des anderen anzuerkennen und zu respektieren: Dass Arafat die jüdische Geschichte in Jerusalem leugnete, fanden seine eigenen Historiker absurd, aber keiner wagte, ihm zu widersprechen (obwohl sie alle diese Geschichte im Stillen akzeptieren). Noch 2010 hatte der Philosoph Sari Nusseibeh als Einziger den Mut zuzugeben, dass der Haram al-Sharif die Stätte ist, an der einmal der jüdische Tempel stand. Der israelische Siedlungsbau untergräbt das arabische Vertrauen und die praktische Realisierbarkeit eines palästinensischen Staates. Ebenso katastrophal für den Friedensprozess ist es jedoch, wenn Palästinenser das alte jüdische Erbe und den jüdischen Charakter des modernen Staates leugnen, und wenn die Hamas Raketen auf Israel abfeuert, so ist das ein kriegerischer Akt. Und dann stellt sich eine noch größere Herausforderung: Jede Seite muss die unantastbare moderne Darstellung der Tragödie und des Heldentums der anderen Seite anerkennen. Das ist viel verlangt, denn in beiden Darstellungen spielt der jeweils andere die Rolle des Erzschurken – aber auch dieser Schritt ist möglich.
Da es hier um Jerusalem geht, ist auch das Undenkbare durchaus vorstellbar: Wird Jerusalem in vierzig oder fünfzig Jahren überhaupt noch existieren? Es besteht jederzeit die Möglichkeit, dass Extremisten den Tempelberg zerstören, der Welt das Herz brechen und Fundamentalisten aller Couleur überzeugen könnten, dass der Jüngste Tag nahe sei und der Krieg Christi gegen den Antichrist beginne.
Amos Oz, der Jerusalemer Schriftsteller, der mittlerweile in Negev lebt, bietet folgende skurrile Lösung an: »Wir sollten die Heiligen Stätten Stein für Stein abtragen und für hundert Jahre nach Skandinavien bringen und erst zurückgeben, wenn alle gelernt haben, in Jerusalem zusammenzuleben.« Leider ist das schlicht nicht machbar.
Über 1000 Jahre hinweg war Jerusalem ausschließlich jüdisch, 400 Jahre lang war es christlich und 1300 Jahre lang islamisch, und keine der drei Religionen errang die Herrschaft je ohne Schwert, Mangoneln oder Haubitzen. Die nationale Geschichtsschreibung aller Beteiligten erzählt jeweils eine rigide Geschichte von unausweichlichen Entwicklungen und Schritten hin zu heroischen Triumphen und abrupten Katastrophen; dagegen habe ich in diesem geschichtlichen Abriss zu zeigen versucht, dass nichts unausweichlich war, dass es vielmehr immer andere Alternativen gab. Die Geschicke und Identitäten der Jerusalemer waren selten klar und eindeutig umrissen. Das Leben in Jerusalem zur Zeit des Herodes, der Kreuzfahrer oder des britischen Mandats war immer ebenso komplex und nuancenreich, wie es heute für uns ist.
Es gab ruhige Entwicklungen ebenso wie dramatische Umbrüche. Manchmal veränderten Dynamit, Stahl und Blut Jerusalem, andere Male war es die allmähliche Abfolge von Generationen, die Weitergabe der gesungenen Lieder, erzählten Geschichten, überlieferten Gedichte, vererbten Skulpturen und nur halb bewussten Alltagsverrichtungen in Familien, die über viele Jahrhunderte hinweg kleine Schritte auf gewundenen Treppen nahmen, in schnellen Sprüngen über die Nachbarschwelle setzten und raue Steine abwetzten, bis sie glänzten. [187]
Jerusalem, das in vielerlei
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