Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
eroberten Städte. Die Entscheidungen Einzelner, angefangen bei König David, machten Jerusalem zu Jerusalem.
Davids kleine Zitadelle, die Hauptstadt eines unbedeutenden Königreichs, hatte sicher nur geringe Aussichten, zu einem wichtigen Anziehungspunkt der Welt zu werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar eine tragende Stütze für die Heiligkeit der Stadt schuf, weil diese Katastrophe die Juden veranlasste, die Herrlichkeit Zions zu schildern und zu preisen. Gewöhnlich führten solche Katastrophen zum Untergang von Völkern. Aber das Überleben der Juden, ihr hartnäckiges Festhalten an ihrem Gott und vor allem die schriftliche Niederlegung ihrer Geschichtsversion in der Bibel schufen die Grundlagen für den Ruhm und die Heiligkeit Jerusalems. Die Bibel trat anstelle des jüdischen Staates und des Tempels und wurde zum »portativen Vaterland«, wie Heinrich Heine es in seinen Geständnissen nannte. Keine andere Stadt hat ihr ureigenes Buch, und kein anderes Buch hat das Schicksal einer Stadt so stark geprägt.
Die Heiligkeit der Stadt erwuchs aus der Besonderheit der Juden als auserwähltem Volk. Jerusalem wurde zur auserwählten Stadt, Palästina zum auserwählten Land, und Christen und Muslime erbten und übernahmen diese herausgehobene Stellung. Die große Heiligkeit Jerusalems und Israels spiegelte sich in der wachsenden religiösen Besessenheit von der Wiederansiedlung der Juden in Israel und in der westlichen Begeisterung für den Zionismus als deren säkulares Äquivalent wider, die von der Reformation im 16. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre herrschten. Seitdem hat die tragische Geschichte der Palästinenser und Jerusalems als ihrer verlorenen Heiligen Stadt die Wahrnehmung Israels verändert. Die westliche Fixierung, dieses Gefühl eines universellen Besitzanspruchs, kann also auf zwei Arten wirken – als Fluch und Segen, als zweischneidiges Schwert. Gegenwärtig äußert es sich darin, dass Jerusalem und der israelisch-palästinensische Konflikt besonders intensiv und emotional betrachtet werden.
Aber nichts ist so einfach, wie es scheint. Häufig wird die Geschichte als Abfolge radikaler Veränderungen und gewaltsamer Umbrüche dargestellt. Ich möchte jedoch zeigen, dass Jerusalem eine Stadt der Kontinuität und Koexistenz war, eine gemischte Metropole mit gemischten Bauten und gemischten Menschen, die einer Einordnung in die engen Kategorien trotzen, die erst mit den separaten religiösen Legenden und nationalistischen Darstellungen späterer Zeiten entstanden. Aus diesem Grund zeichne ich die Geschichte, wo immer möglich, anhand von Familien nach – von den Davidern, Makkabäern, Herodiern, Omaijaden und den Dynastien Balduins und Saladins bis hin zu den Husseinis, Khalidis, Spaffords, Rothschilds und Montefiores. Denn sie offenbaren die organischen Muster des Lebens, das sich den abrupten Ereignissen und sektiererischen Darstellungen der konventionellen Geschichtsschreibung entzieht. In Jerusalem gibt es nicht nur zwei Seiten, sondern viele miteinander verflochtene, sich überschneidende Kulturen und vielschichtige Loyalitäten – ein facettenreiches, wandelbares Kaleidoskop aus arabisch-orthodoxen Christen, arabischen Muslimen, sephardischen Juden, aschkenasischen Juden, Haredi-Juden verschiedener Richtungen, säkularen Juden, armenisch-orthodoxen Christen, Georgiern, Serben, Russen, Kopten, Protestanten, Äthiopiern, Lateinern und so weiter. Jeder Einzelne besaß oft verschiedene Loyalitätspflichten gegenüber den unterschiedlichen Aspekten seiner Identität, das menschliche Äquivalent zu Jerusalems diversen Schichten aus Stein und Staub.
Die Bedeutung der Stadt nahm zu und ab, stand niemals still, war in ständigem Wandel wie eine Pflanze, die Form, Größe und sogar Farbe ändert, aber immer am selben Platz verwurzelt bleibt. Die neueste, oberflächliche Manifestation – Jerusalem als mediale »Heilige Stadt dreier Religionen« und als Dauerthema der Nachrichten – ist relativ neu. Es gab Jahrhunderte, in denen Jerusalems religiöse und politische Bedeutung zu schwinden schien. Häufig war es politische Notwendigkeit, nicht göttliche Offenbarung, die eine religiöse Hingabe erneut schürte und motivierte.
Wenn Jerusalem nahezu in Vergessenheit geraten war und an Bedeutung verloren hatte, projizierten Menschen in fernen Ländern – sei es in Mekka, Moskau oder Massachusetts – durch ihre Bibelverehrung und das
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