Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Christentums
Jerusalem erholte sich gerade vom letzten Aufflammen apokalyptischer Gewalt. Ein ägyptischer Jude hatte eine Menschenmenge auf den Ölberg geführt und mit Anklängen an Jesus verkündet, er werde die Mauern Jerusalems zu Fall bringen und die Stadt einnehmen. Der falsche Prophet versuchte die Stadt zu stürmen, aber die Jerusalemer schlossen sich den Römern an und wehrten seine Anhänger mit ihnen gemeinsam ab. Felix’ Legionen töteten die meisten von ihnen. [58] Auf ihren Anführer fand gerade eine wahre Hexenjagd statt, als Paulus in die Stadt kam, die er gut kannte.
Paulus’ Vater, ein Pharisäer, war reich genug, römischer Bürger zu werden. Seinen Sohn – der etwa zur gleichen Zeit wie Jesus in Kilikien (in der heutigen Türkei) geboren wurde – schickte er zum Studium in den Tempel nach Jerusalem. Nach der Kreuzigung Jesu unterstützte Saulus, wie er damals noch hieß, die Verfolgung der Anhänger Jesu: Er hielt die Umhänge der Männer, die Stephanus steinigten, und »hatte Gefallen an seinem Tod«. Dieser griechischsprachige römische Pharisäer und Zeltmacher machte sich zum Agenten des Hohepriesters, bis er 37 n.Chr. auf dem Weg nach Damaskus seine »Apokalypse« erlebte: Denn da »umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel« und er hörte eine Stimme sagen: »Saulus, Saulus, was verfolgst du mich?« Der auferstandene Christus trug ihm auf, ein dreizehnter Apostel zu werden und den Heiden die frohe Botschaft zu predigen.
Jakobus und die Christen in Jerusalem standen diesem frisch Bekehrten verständlicherweise skeptisch gegenüber, aber Paulus fühlte sich verpflichtet, diese Botschaft mit all seiner obsessiven Energie zu predigen: »Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte.« Schließlich aber akzeptierte »Jakobus, des Herrn Bruder« den neuen Bruder. In den folgenden 15 Jahren bereiste dieser unwiderstehliche Aufwiegler den Osten und predigte dogmatisch seine eigene Version des Evangeliums Jesu, die eine Exklusivität der Juden vehement ablehnte. Die »Heidenapostel« glaubten, Gott habe »den, der von uns keine Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt«. Paulus legte den Schwerpunkt auf die Auferstehung, die er als Brückenschlag zwischen Menschheit und Gott sah. Paulus’ Jerusalem war das Himmelreich, nicht der reale Tempel; sein »Israel« bestand aus allen Anhängern Jesu, nicht aus dem jüdischen Volk. In gewisser Weise war er seltsam modern, denn entgegen der harten Ethik der antiken Welt glaubte er an Liebe, Gleichheit und Einschließlichkeit: Griechen und Juden, Frauen und Männer, alle waren eins, alle konnten allein durch den Glauben an Christus Erlösung finden. Seine Briefe dominieren das Neue Testament, das sie zu einem Viertel ausmachen. Seine Vision war grenzenlos, denn er wollte alle Menschen bekehren.
Jesus hatte einige nichtjüdische Anhänger gewonnen, aber Paulus war besonders erfolgreich bei Heiden und den sogenannten Gottesfürchtigen, jenen Nichtjuden, die gewisse Aspekte des Judentums übernahmen, sich aber nicht beschneiden ließen. Paulus’ syrische Konvertiten in Antiochia waren die ersten, die man als »Christen« bezeichnete. Um 50 n.Chr. kehrte Paulus nach Jerusalem zurück, um Jakobus und Petrus zur Aufnahme von Nichtjuden in die Sekte zu überreden. Jakobus stimmte einem Kompromiss zu, erfuhr aber in den folgenden Jahren, dass Paulus Juden zur Abkehr vom mosaischen Gesetz bewegte.
Paulus war ein unverheirateter, puritanischer Einzelgänger und überstand auf seinen Reisen Schiffbrüche, Raubüberfälle, Prügel und Steinigungen, aber nichts konnte ihn von seiner Mission abbringen – aus dem ländlichen jüdischen Galiläer Jesus Christus zu machen, den Erlöser der Menschheit, der bald im Himmelreich ein zweites Mal wiederkehren werde. Manchmal war er immer noch Jude und kehrte möglicherweise bis zu fünfmal nach Jerusalem zurück, aber andere Male stellte er das Judentum als den neuen Feind hin. In den frühesten christlichen Texten, seinem ersten Brief an die Thessaloniker (griechischen Heiden, die zum Christentum konvertiert waren), wetterte er gegen die Juden, weil sie Jesus und ihre eigenen Propheten getötet hatten. Nach seiner Ansicht war die Beschneidung, der jüdische Bund mit Gott, eine jüdische Pflicht, die für Nichtjuden nicht galt: »Nehmt euch in Acht vor den Hunden … nehmt euch in Acht vor der Zerschneidung! Denn wir sind die Beschneidung, die
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