Jerusalem
und sich in der unbekannten Welt zu verlieren, hockte seit der ersten Nacht dieses Sommers tief in Rutgars Herz. Das Vertraute, das waren die schöne, erfahrene Ragenarda, das Land rund um Nîmes zwischen dem Meer und Les-Baux, die wenigen Freunde und Philbert, der alte Ordensbruder, von dem er so viel gelernt hatte. Rutgar legte die Arme um die Schultern der Frau und antwortete:
»Mit dir bin ich glücklich. Fata volentem ducunt ..., das Schicksal führt den Glücklichen, hat Philbert gesagt, in seiner Kirchensprache. Und den Unglücklichen zieht es. Ich will nicht unglücklich werden.«
»Du wirst nicht unglücklich sein.« Ragenardas Hüften drängten sich an ihn. Smaragdfarbene Eidechsen sonnten sich auf dem Mauerrest. »Du bist so viel klüger und stärker als alle anderen. Und so viel leidenschaftlicher, mein Grünauge.«
Er zählte fünfzehn Jahre, sie war zehn Jahre älter und ein halbes Jahrhundert erfahrener. Sie hatte ihn, der nicht einen Atemzug lang daran gedacht hatte, sich zu wehren, mit wissendem Lächeln verführt und ihn alles gelehrt, was sie von der Minne und der Leidenschaft ihrer Körper wusste. Von ihr hatte er auch ein paar Dutzend Schriftzeichen und Wörter der muslimischen Sprache gelernt. Wozu eigentlich? Es gab an der Küste keine Sarazenen mehr. Und mit diesem Können und Wissen, seiner Kraft und seiner Jugend würde er von nun an allein sein müssen. Mit schweißfeuchten Fingern erwiderte er ihr Streicheln und murmelte in ihr Haar:
»Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird, draußen, in der Welt, die ich nicht kenne. Aber ich werde zurückkommen, reich und mächtig.«
»Dann wirst du hier wenig wiederfinden von dem, was du kennst.« Ragenarda nahm lächelnd seine Hand und führte sie zwischen ihre Schenkel. Ihre Augen, schwarz im Schatten des löchrigen Vordachs, betrachteten ihn mit seltsam abwesenden Blicken, als habe sie geweint, ohne dass es ein anderer sah, habe den Abschied längst vollzogen. »Alles wird sich verändert haben. Ich weiß, dass es so ist - ich hab's selbst schon einmal erlebt.«
Der Hauptstützpunkt der plündernden muslimischen Seeräuber, die Festung Fraxinetum im Land hinter den Küstenbuchten war lange vor Jean-Rutgars Geburt zerstört worden. Ragenarda stammte aus dieser Gegend, was ihr Aussehen zu erklären schien; der Graf hatte »die Maurin«, damals noch ein Kind, mitgebracht, und nach seinem Tod war ihr Leben bedeutungslos geworden. Rutgar, ebenso elternlos, ein fürstlicher Bastard, mit einer Magd gezeugt, wuchs im Schutz Thybolds, eines wirklichen Sohnes des Grafen und unter den Fittichen des alten Mönchs Philbert auf, dessen Glaubensbrüder aus der Abtei Montmajour die Sümpfe bei Arles trockengelegt hatten. Morgen würden Philbert und Rutgar dorthin aufbrechen.
Er wollte antworten, aber unter Ragenardas weichen, fordernden Lippen wurden im Summen des Windes seine Worte zu undeutlichem Murmeln. Ihre Körper schlangen sich umeinander, das hastige Atmen wurde zu stockendem Keuchen, die Lust ließ Rutgar seine Furcht und Traurigkeit vergessen. Ragenarda nahm ihn mit unverständlich murmelndem Singsang in sich auf, schlang die Beine um ihn, und er bewegte, wie sie es gelehrt hatte, seine Hüften. Dieses Mal legten sich zwei Schatten auf die leidenschaftliche kurze Ewigkeit, die Rutgar bisher fröhlich und ohne an die Sünden der Begierde und der Unzucht zu denken genossen hatte: die Furcht vor dem Leben im Unbekannten und die Schatten der Wolken, die sich vor die Sonne geschoben hatten. Der Himmel war leer, das Falkenpärchen war abgestrichen.
Aus der wohligen Erschöpfung weckten sie kurze, heiße Windstöße. Die Wolken hatten sich grau gefärbt. Pflanzensamen, dürres Laub und Spelzen wirbelten durch die Luft. Rutgar und Ragenarda zogen sich flüchtig an und liefen den Pfad hinunter bis zu der uralten Eiche, unter der Ragenardas Pferd lustlos an braunen Halmen zupfte. Im winzigen Quellteich wuschen sie sich, ergötzten sich zum letzten Mal an der Schönheit ihrer nassen Körper und ließen sich von der Luft im säuselnden Wind trocknen.
Rutgar sattelte Ragenardas müden Schimmel und sagte: »Morgen bringt der Händler Wein zur Abtei. Er nimmt Philbert und mich mit.«
Sie flocht ihr tropfendes Haar zu einem schwarz glänzenden Zopf, während sie zu ihrem Pferd ging. Einige Atemzüge lang betrachtete sie die Burgruine, die Pinien und den Kirschbaum, dessen Krone im Wind schaukelte, dann deutete sie auf die grauschwarze
Weitere Kostenlose Bücher