Jerusalem
sich Jean-Rutgar um. Die Luft war so klar wie nie zuvor. Thybold und Ragenarda standen unter dem Nussbaum, an dessen Blättern das Sonnenlicht in tausend Funkeltropfen zerstrahlte; in Rutgars Kopf blitzten, wirbelten und strudelten die Gedanken durcheinander. Er empfand nichts, es war zu viel. Er kletterte zu Philbert zwischen die Fässer und wischte, als es niemand sah, die Tränen aus den Augen. Erst als Philberts Schultern schwer gegen ihn fielen, weil der Greis eingeschlafen war, richtete Rutgar seinen Blick auf die Räderspuren der Straße, die hügelan führte und neben einer verwitterten Säule hinter der Erhebung verschwand. Ihm war zumute, als könne er niemals mehr zu weinen aufhören.
Kapitel I
A NNO D OMINI 1095, 27. T AG DES W INDMONDS (N OVEMBER )
C LERMONT IN F RANKREICH , VOR DEN M AUERN
»Deus lo volt!« - »Gott will es!« - »Diex le volt!«
(Schlachtruf der Kreuzfahrer)
Vielen der Versammelten schien es, als habe der Regen, der vor einer Stunde über das Land gezogen war, aus geweihtem Wasser bestanden. Zugleich mit der Nässe bedeckte weihevolle Erwartung die Felder und Weiden. Noch war das teppichgeschmückte Podium, das den Baldachin und den Thronsessel trug und vor dem Osttor der hoch ummauerten Stadt Clermont errichtet worden war, nass und menschenleer. Breite Strahlenbündel durchbrachen die tiefen, grauschwangeren Wolken. Den stumpfen Kegel des Puy de Dome krönten zerfaserte Windfahnen.
Mehr als ein Dutzend Erzbischöfe, etliche zwanzig Dutzend Bischöfe und fast vierhundert Äbte, Prälaten, Priester und Mönche, die den vorletzten Tag des zehntägigen Konzils in der Auvergne hinter sich gebracht hatten, umgaben das geschmückte Podest; ein unruhiger, malmender Dreiviertelkreis aus Bewegung, Farbe, dampfenden Kleidern und blitzendem Silber und Gold. Aus feuchten Fahnen tropfte schmutziges Wasser auf die Schultern prächtig gewandeter Träger.
Auf dem weiten, flachen Feld, das der Regen des elften Monats durchweicht hatte und über dessen Stoppeln und niedergetretene Furchen eisiger Wind flüsterte, warteten Tausende auf den Papst. Urban II., dreiundfünfzig Herbste auf dem kerzengeraden Rücken, ein französischer Adliger namens Eudes »Odo« de Lagery, geboren auf dem Familienschloss nahe Châtillon-sur-Marne, schritt an der Seite Adhemars von Monteil, des breitschultrigen Bischofs von Le Puy, eines achtungsgebietenden Recken, durch die Gasse der prunkvoll gewandeten Würdenträger bis zu den Stufen des Podiums.
Jean-Rutgar fühlte, wie kalte Nässe durch die Sohlen an seinen Füßen heraufkroch. Er stand einen Steinwurf vom Podest entfernt und fragte sich, warum er wartete, fror und nicht im Heu der warmen Klosterscheune lag. Seit den letzten Tages des Erntemonds, seit Nîmes und Saint-Gilles, rhôneaufwärts und auf der Saône, über Vienne und Lyon, begleitete er den Zug des Papstes, schuftete als Knecht des Gespannführers und erhielt guten Lohn und freie Kost überall dort, wo der Papst mit seinem Gefolge zu Gast war. Es war eine gute Zeit gewesen, trotz der endlosen Mühen der Reise.
Ich bin aus Neugierde hier, dachte Jean-Rutgar, und vielleicht, weil ich Thybold hier wiederfinden kann. Halbbruder Thybold. Vor mehr als fünf Jahren hatten sie den letzten Schluck sauren Wein geteilt. Fünf Jahre! Sie waren schneller vergangen als eine Rhône-Hochflut und hatten Rutgar hierhin und dorthin gebracht, auf den unsicheren, schlechten Straßen der Provençe, im Burgundischen, bis in die Champagne und an Lothringens Grenze. Zuvor hatte er länger als ein Jahr als Klosterknecht und Herr über vier Gespanne in der Abtei Montmajour und später lange in Cluny gearbeitet, bis der liebenswerte Mönch Philbert, mehr, aber anders als ein Vater, in friedlichem Schlaf zu seinem Gott eingegangen war.
Daraufhin war Rutgar ein Jahr lang als Rhôneschiffer gefahren, flussauf, flussab, zwischen Aigues Mortes und Nîmes, Avignon oder Lyon; er kannte jede tückische Stromschnelle und hatte vier Mal dem nassen Tod davonschwimmen können.
Er musterte die prächtige Kleidung der Bischöfe und Kardinäle und fühlte sich plötzlich in der Menge der Versammelten eingeschlossen und bedrängt. Dass der Papst mit langen, gesiegelten Sendschreiben die Bischöfe hierher zusammengerufen hatte, wusste Jean-Rutgar; er hatte einige Male den Boten geholfen und ihnen den Weg gewiesen. In die Schäfte seiner Stiefel und den Messergurt waren Silber- und Goldmünzen eingenäht; wenige silberne und zwei
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