Jerusalem
Klosterbrüder und Reisegenossen hatten erzählt, dass der Pontifex mit seinen Worten die Macht der Kirche in die gekrönten und gesalbten Häupter hineingehämmert habe; heute beschwor er die Herzen des frommen Fußvolks.
In die Geräusche, die einige Tausend Soldaten und Bauern, Handwerker und Tagelöhner verursachten, mischte sich das Winseln des Windes, der die Wolken um den Puy de Dome zu einer grauweißen Standarte zerteilte; wie Pfeilspitzen deuteten sie nach Osten. Rutgar zog seinen feuchten Mantel enger um Schultern und Hals zusammen.
Alle, auch Rutgar, die Papst Urban zuhörten, warteten auf das Unausgesprochene, auf die Große Botschaft. Flüsternd, gut oder schlecht übersetzt, wurde die Bedeutung von Urbans Worten bis in die hintersten Reihen weitergegeben.
»Schreckliche Nachrichten haben uns erreicht. Krieger des muselmanischen Reiches, gottlose Heiden, sind in unsere christlichen Länder vorgedrungen und haben sie durch Feuer, Schwert und gottlose Plünderung verwüstet. Christen wurden gefangen, verschleppt und zu Tode geschunden.«
Viele Worte und Sätze erkannte Rutgar wieder. In eindringlichen Predigten, zu Valence, daraufhin in Le Puy, La Chaise-Dieu, Monastir, Nîmes, Saint-Gilles, Tarascon, nach Avignon in Saint-Paul-Trois-Châteaux, Vienne, Lyon, Burgund, Cluny und Autun, Souvigny und zuletzt hier in Clermont, also in jeder Stadt am linken Rhône-Ufer, hatte Urban die Bischöfe beschworen. Er wollte die Kirche zur höchsten Schiedsrichterin über weltliche und geistliche Fürsten emporheben; Gottes Urteil sollte für jeden Gläubigen gelten. Seit Nîmes hatte Jean-Rutgar als junger Fuhrknecht, später als Gespannführer, Urbans päpstlichen Tross begleitet.
Was er den Tausenden sagen würde, hatte der Papst sicherlich in schlaflosen Nächten ausgedacht und niedergeschrieben. Alle Teilnehmer des Konzils wussten aus Briefen, aus den Worten des Pontifex, aus den Ansprachen ihrer Bischöfe, dass er sich über das Schicksal der Christenheit ereifern würde. Selbst Rutgar, der in mehr als zwei Dutzend Nächten das Leben Urbans bewacht hatte, kannte es nicht anders.
Als das Lärmen und die ersten Hochrufe verklungen waren, redete der Papst weiter.
»Kirchen wurden zerstört, das Land verwüstet, Frauen geschändet, sie und ihre Kinder in die Sklaverei geführt. Christus befiehlt uns, gegen die Heiden anzutreten, zu Lande und zu Wasser, und wer in diesem Kampf sein Leben verliert, dessen Sünden werden allesamt vergeben sein.«
Wieder erhoben sich Lärm und von Abscheu erfülltes Geschrei. Urban rief zu einem Zug in Waffen ins Heilige Land auf. War es ein Pilgerzug oder ein Krieg - oder gar beides? Rutgar blickte sich um: Die Gewappneten dachten wohl an geschändete Christenfrauen oder lüstern an willige Heidenweiber und an abergläubische Turkmenen, durchbohrt von christlichen Lanzenspitzen und zermalmt von den Hufen der Streitrosse. Der feuchte Wind hatte zugenommen; er trieb die Wolken auseinander, zerrte an den Gewändern und ließ Stoffbahnen und Fahnen dumpf knattern.
»Die versammelten Fürsten der Kirche werden Vorbilder für jeden einfachen Gläubigen sein. Sie werden die Beschlüsse des Konzils verteidigen und jeden begehrlichen Einfluss weltlicher Mächte abweisen. Wer aber wird das Unrecht gegen unsere Glaubensbrüder rächen?«
Urbans Aufruf war dazu gedacht, gleich mehrere Missstände zu beseitigen. Französische Adlige sollten ihre kleinlichen Händel vergessen, ihre übermütigen und kriegslustigen Söhne sollten sich einer Idee verschreiben, die größer und wichtiger war als ihre persönlichen Fehden; der Militia Christi, wie es Urban nannte. Ein solches gemeinsames Unterfangen würde ein für alle Male die gegenseitigen Überfälle der Ritter beenden und ebenso die Raubzüge gegen andere Gläubige.
Der Hungersnot würde begegnet, indem die Hungrigen ihre Mägen in den Ländern der Ungläubigen füllten, und waren erst einmal alle Vorbereitungen getroffen, konnte sich der Große Zug in Bewegung setzen.
Das Geschrei der Volksmenge scheuchte eine schwarze Wolke aus Hunderten Krähen auf, die schauerlich krächzend, lauter als die Stimmen der Tausende, über die Versammlung flatterten und nach Osten abstrichen, als habe sie der feuchte Westwind fortgeweht.
»Ihr seid das Volk voller Waffenruhm, Körperkraft und stolzem Mut, das jene demütigen soll, die euch widerstehen wollen. Erinnert euch an die gewaltigen Taten eurer ruhmreichen Ahnen! Erhebt euch! Ich erinnere euch an
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