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Jesses Maria - Hochzeitstag

Jesses Maria - Hochzeitstag

Titel: Jesses Maria - Hochzeitstag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Berling
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Wenn ich ihn dann in den Arm nahm und ein bisschen quengelte, staubte ich fast immer fünf Mark ab. Und wenn ich dasselbe abends noch mal versuchte, konnte er sich an mittags nicht mehr erinnern und ich bekam noch mal eine oder zwei Mark.
    Omas, Opas, Onkel und Tanten steckten mir zum Rehmer Markt auch immer Münzen zu, sodass ich manchmal mehrals zwanzig Mäuse in der Tasche hatte.
    Belinda klaute ihren Eltern vorher wochenlang Zigaretten, zog immer nur eine aus der Packung und versteckte sie in ihrem Turnbeutel. Bevor wir zur Kirmes gingen, besorgten wir uns zwei leere Zigarettenschachteln aus dem Mülleimer neben der Bushaltestelle und füllten sie mit den gehorteten „Zichten“. Wir hatten ausgiebig geübt, Zigaretten zu paffen, ohne zu husten und zu kotzen. Der Gedenkstein an der Werremündung könnte erzählen, welche Tortur es war, bis wir endlich auf Lunge rauchen konnten.
    Voller Aufregung und vor guter Laune albern kichernd trafen Belinda und ich uns am letzten Mittwoch im August am Kriegerdenkmal, um uns dort heimlich zu schminken. Ich besaß - natürlich ohne Wissen meiner Mutter - Spucktusche: eine feste schwarze Masse, die ich mit Spucke befeuchtete und mit einer Plastikbürste auf die Wimpern strich. Erst spuckte ich, dann spuckte Belinda.
    Sie hatte Lederbänder für uns beide mitgebracht. Die langen dünnen Schnüre gab es im Müllcontainer der Lederwarenfabrik Schuchard und Friese am Alten Rehmer Weg. Wir ersetzten also meinen artigen Seitenscheitel im Pottschnitt und die braune Klemme am Haaransatz durch einen schnurgeraden Mittelscheitel und banden uns die Lederbänder nach Indianermanier um die Stirn. Ich trug eine durchfallfarbene Cordhose mit einem Meter Schlag und einen orange und grün gemusterten Pullunder über einem ausrangierten Nyltest-Hemd meines Vaters. Alle erwachsenen Männer, die ich kannte, trugen diese weißen Hemden mit der eingesticktenschwarzen Rose. Aber nur sonntags.
    Das Hemd knotete ich in der Taille, ließ dabei ein gutes Stück nackten Bauch sehen, und ich öffnete die obersten Knöpfe. Ich war heimlich ohne das vorgeschriebene Unterhemd aus dem Haus gegangen. So aufgebrezelt fühlte ich mich todschick und verführerisch und unendlich erwachsen.
    Beim Schminken konnten wir schon die Musik von Steuer‘s Raupe hören, und ich bekam vor lauter Abenteuerlust und Vorfreude Bauchkribbeln.
    Sobald wir am Dorfkrug ankamen, waren wir mitten im Geschehen. Es gab nichts, was es nicht gab: eingelegte Gurken, Heizkissen und Blumenzwiebeln, selbst gemachte Marmeladen und Eingemachtes von den Frauen des Gartenbauvereins, Erbsensuppe aus der Gulaschkanone, Bratwurst vom Holzkohlengrill, Zuckerwatte, mit rotem Zuckerguss glasierte Äpfel und natürlich Bier und Schluck, wie der Westfale Pils und Korn nennt. Es roch nach Popcorn, gebrannten Mandeln, Sägespänen und Pferdemist. Im Garten des Dorfkruges war eine Manege aufgebaut, in der Kinder auf Ponys reiten konnten.
    Vom Kettenkarussell und Steuer’s Raupe dröhnte laute Musik, Stimmengewirr und Lachen erfüllten den Platz, es war herrlich. Die Raupe war unser Ziel. Sie war als Treffpunkt der Jugendlichen eine Art Freiluft-Diskothek.
    Auf den blaulackierten Holzdielen rund um die sich drehenden Waggons waren die begehrtesten Stehplätze, Belinda und ich positionierten uns lässig am Geländer. Wir machten laszive Tanzbewegungen zu „Jenny, Jenny, Dreams are ten aPenny“, sangen „Mama Loo“ mit, und wir liebten den Song „Power to all our Friends“ von Cliff Richard.
    Die Raupe war mit bunten Blumen im Pril-Design bemalt und hatte ein grünes Verdeck, das sich am Ende jeder Fahrt nach einem lauten Hupton stockend über die Insassen wölbte.
    In einer Kabine neben dem Kassenhäuschen saß ein langhaariger Discjockey, den alle Mädchen anhimmelten. Er nannte sich Johnny. Ich hatte ihn schon beim Schützenfest und im letzten Jahr auf der Herbstkirmes auf dem Platz neben dem Autohaus „Ford Meyer“ gesehen. Aber da war ich ja erst zwölf gewesen und hatte auch so ausgesehen. Nie im Leben hätte er sehen dürfen, dass ich ihn anguckte und nie im Leben hätte ich den Mut gehabt, mir ein Lied zu wünschen.
    Aber in diesem Jahr war ich ja fast erwachsen. Johnny legte beim Rehmer Markt wieder die allerneuesten Scheiben auf, und ich wurde leider immer noch rot, wenn er einen seiner Sprüche an mich richtete.
    „Die kleine Brünette in Wagen fünf, hallo schaut alle her, was hat dich Mutti heute wieder feingemacht!” Alle guckten mich

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