Jesus von Nazaret
es sich schenken lassen und nur als reines Geschenk kann er es empfangen.« 22
In der Gabrielskirche führt eine steile Treppe hinab zu einer Krypta, wo in einem Steinbecken das Wasser einer Quelle gesammelt wird, die Marienquelle genannt wird. Besucher füllen sich ihre Flaschen mit dem Wasser und zünden Kerzen an. AuÃerhalb der Kirche, nur wenige Meter von ihr entfernt, steht ein neuer Marienbrunnen. Bei Bauarbeiten stieà man auf den Ursprung der Quelle in einer zehn Meter unter dem Boden gelegenen Höhle, von der aus ein Aquädukt das Wasser an die Oberfläche leitete.
An diesem Ort befand sich wahrscheinlich zu Jesusâ Zeiten die Schöpfstelle. Der Brunnen war der Mittelpunkt des Dorfes, und man kann sich gut vorstellen, wie hier die Kinder spielten und wie die Frauen mit ihren Krügen, die sie auf dem Kopf trugen, hierherkamen, um Wasser zu holen und Neuigkeiten auszutauschen. Auch Maria muss das Wasser für ihren Haushalt aus diesem Brunnen geschöpft haben.
Im Nazaret des einundzwanzigsten Jahrhunderts können Touristen eine Zeitreise machen und sich zurückversetzen in das Nazaret vor zweitausend Jahren. Am Hang vor dem Krankenhaus liegt »Nazaret Village« 23 , ein Freilichtmuseum, das unter der wissenschaftlichen Anleitungvon Historikern und Archäologen errichtet worden ist. Häuser, Felder, Ställe und die Werkstätten von Handwerkern eines typischen jüdischen Dorfes aus dem ersten Jahrhundert sind hier nachgebaut. Einheimische Statisten, gekleidet wie die Landbewohner dieser Zeit, demonstrieren, wie sich das Leben damals abgespielt hat. Männer hüten Schafe, schneiden Getreide mit Sicheln, schütteln Oliven mit langen Stangen von den Bäumen, beackern mit einem Esel und Holzpflug ein Feld oder arbeiten als Zimmermann mit Hobel und Stemmeisen in einer Werkstatt. Frauen backen Brotfladen, weben Wolle zu Stoffen und mahlen Getreide mit einem Mühlstein. Und wenn man Glück hat, kann man auch Josef und Maria sehen, wie sie mit einem kleinen Jesus-Baby und einem Esel durch das Dorf ziehen.
»Nazaret Village« ist sicher kein christliches Disneyland, dazu hat man sich zu genau an historisches Wissen und die Ergebnisse der Ausgrabungen gehalten. Doch lässt es sich wohl nicht vermeiden, dass die ganze Szenerie etwas Idyllisches und Theaterhaftes an sich hat. Schwer kann man sich vorstellen, wie entbehrungsreich, mühselig und primitiv das Leben damals gewesen sein muss. In späteren Jahrhunderten berichteten Pilger darüber, wie schmal und uneben die ungepflasterten Gassen in Nazaret waren, wie dreckig der Ort in der Regenzeit war und wie staubig im Sommer.
Nazaret war ein kleines Nest mit kaum zweihundertEinwohnern am südlichen Rand von Galiläa. Nirgendwo im Alten Testament oder bei den antiken Historikern wird der Ort erwähnt. Nicht einmal bei Flavius Josephus, der sich in Galiläa gut auskannte und viele Orte beschrieb. Darum hat man lange angenommen, dass es diese Ansiedlung zu Zeiten Jesu überhaupt nicht gegeben hat. Erst neuere Ausgrabungen haben das Gegenteil bewiesen.
Nazaret war einfach zu unbedeutend. Es lag abseits der groÃen StraÃen und Städte. Für die Leute in den Zentren des Landes waren die Menschen aus Dörfern wie Nazaret nur die »am-ha-aretz«, die gewöhnlichen Leute vom Lande. Hinzu kam, dass man in diesem Teil Galiläas einen starken Akzent sprach, der überall gleich auffiel und über den man sich schnell lustig machte. Wer im ländlichen Galiläa lebte, der war eben ein Hinterwäldler. Und wer aus Nazaret kam, der galt den Stadtbewohnern nur als schlichter Bauerntölpel. »Aus Nazaret zu kommen«, so meinte der französische Historiker Robert Aron, »heiÃt bei ihnen so viel wie aus Hintertupfing stammen.« 24
Ausgrabungen in neuerer Zeit haben belegt, dass Nazaret ein schlichtes Bauerndorf war, ohne jeden Luxus oder Komfort. Die Archäologen stieÃen weder auf SteinfuÃböden noch auf Dachziegel und schon gar nicht auf Mosaike oder Fresken. Viele Wohnungen waren in den Felsen gehauene Höhlen, die man mit groÃen Steinen verschloss. Im Sommer war es hier angenehm kühl undim feuchtkalten Winter trocken. Im hinteren Teil dieser Grotten wurden Schafe, Ziegen, Esel und Hühner gehalten. Im vorderen Teil befand sich die Kochstelle, damit der Rauch durch die schmale Tür abziehen konnte. Eine etwas erhöhte Fläche war sozusagen
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