Jesus von Nazaret
die verhassten Besatzer. Die Römer griffen hart durch. Sie zerstörten viele Bauwerke und raubten den Tempelschatz. Viele Juden sahen nun in diesem Machtvakuum die Stunde gekommen, endlich die »Freiheit der Väter« wiederzugewinnen. 26 Im ganzen Herodesreich scharten sich Freiheitskämpfer zusammen, um die Römer endgültig aus dem Land zu werfen. In Sepphoris in Galiläa war es ein Mann namens Judas, dessen Vater schon gegen Herodes gekämpft hatte, der einen Haufen Leute um sich sammelte. Sie erstürmten die königlichen Waffenlager, zogen als bewaffnete Freischärler durchs Land und verbreiteten Angst und Schrecken.
Der Finanzverwalter Sabinus, der vom Kaiser nach Jerusalem geschickt worden war, um bis zur geklärten Machtfrage die Schätze des Herodes zu sichern, rief den Statthalter von Syrien, Publius Quinctilius Varus, zu Hilfe. Varus zog mit zwei Legionen Richtung Jerusalem. Ein Teil des Heeres eroberte Sepphoris. Die Stadt wurde in Brand gesteckt und die Bewohner wurden in die Sklaverei verkauft. Nachdem Varus auch in Jerusalemden Aufstand niedergeschlagen hatte, lieà er seine Soldaten in Richtung Norden ausschwärmen, um wie mit einem Netz alle Rebellen einzufangen. Die Soldaten durchkämmten die Dörfer, durchsuchten jedes Haus und nahmen jeden fest, der ihnen auch nur ein wenig verdächtig vorkam. Mit den Gefangenen machten sie kurzen Prozess und schlugen sie ans Kreuz. Nach glaubwürdigen Schätzungen standen an den Wegen auf den Hügeln und in den Tälern Judäas und Galiläas an die zweitausend Kreuze. Damit war die »Pax Romana«, der römische Frieden, wiederhergestellt.
Kaiser Augustus in Rom fällte im Streit um die Zukunft Palästinas eine salomonische Entscheidung. Er teilte das Reich unter den drei Herodessöhnen auf. Archelaus wurde zum Herrscher über Judäa, Samaria und Idumäa ernannt. Philippus wurden die Gebiete im Nordosten zugesprochen. Und Antipas, der sich nun auch Herodes nannte, erhielt die Regionen östlich des Jordans, Galiläa und Peräa. Antipas baute das zerstörte Sepphoris wieder auf, siedelte Tausende Menschen hier an und machte die Stadt zu seiner Residenz.
Nur eine Stunde FuÃmarsch von Nazaret entfernt entstand eine neue Stadt. Und das dürfte auch für den Zimmermann Josef ein Segen gewesen sein. Handwerker wie er wurden dringend gesucht und er hat sich diese Einnahmequelle wohl kaum entgehen lassen. Ob er auch seinen ältesten Sohn nach Sepphoris mitgenommen hat?Dann hätte das Landei Jesus auch einmal eine Stadt gesehen, in der es Tempel, riesige Marktplätze und ein Theater gab.
War Jesus ein ganz normaler Junge oder war etwas Besonderes an ihm? Verhielt er sich manchmal merkwürdig? Oder war er irgendwie anders als seine Geschwister und die anderen Kinder im Dorf? Später haben sich Gelehrte darüber gestritten, ob Jesus eine Entwicklung durchgemacht hat oder nicht. Manche hielten das für undenkbar, weil er doch von Anfang an Gottes Sohn gewesen sei und eine Entwicklung nur jemand brauche, der noch nicht fertig, unvollkommen ist.
Der Philosoph und Theologe Romano Guardini meinte, dass man auch bei Jesus nicht vor dem Gedanken einer Entwicklung zurückschrecken soll. 27 Denn auch diese Eigenschaft gehöre zum »wahren Menschen«. Und ein Mensch, der keine Krisen, Kämpfe, Stürze und Aufstiege erlebt, in dessen Leben fehlt nach Guardini etwas. Allerdings warnt er davor, Jesus psychologisch zu betrachten, als wäre er nur ein Mensch gewesen. Entwicklung ist bei Jesus anders zu verstehen, eher in dem Sinne, dass etwas in ihm angelegt war, das mit der Zeit immer stärker und deutlicher wurde. Ganz in dem Sinne, wie der Evangelist Lukas es beschreibt: »Das Kind wuchs heran und wurde kräftig; Gott erfüllte es mit Weisheit, und seine Gnade ruhte auf ihm.«
4.
D IE GROSSE L OSLÃSUNG
Es gibt Geschichten vom Kind Jesus, die fast dreihundert Jahre nach dessen Geburt entstanden sind. Als Verfasser gilt ein gewisser Thomas, der als Israelit und Philosoph bezeichnet wird. 28 Die christlichen Gemeinden dieser Zeit hatten offenbar ein groÃes Bedürfnis, etwas über die Kindheit Jesu zu erfahren, besonders über die Zeit zwischen seinem fünften und zwölften Lebensjahr. Und weil die Evangelien nichts davon erzählten, hat man die Fantasie spielen lassen. Diese Kindheitsgeschichten waren sehr beliebt und sie wurden in viele Sprachen
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