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Jesus von Nazareth - Band II

Jesus von Nazareth - Band II

Titel: Jesus von Nazareth - Band II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedikt XVI
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Fortschreibungen der Tradition und nicht Beschreibungen des Kommenden sein wollen, konnten die Überlieferungsträger diese Fortschreibungen auch nach ihren Umständen und den Verstehensmöglichkeiten ihrer Hörer weiter ausziehen, wobei sie darauf achteten, den wesentlichen eigenen Gehalt der Botschaft Jesu treu zu bewahren.
    In die vielfältigen Detailprobleme der Redaktions- und Traditionsgeschichte des Textes einzutreten, kann nicht Aufgabe dieses Buches sein. Ich möchte mich darauf beschränken, drei Elemente der eschatologischen Rede Jesu herauszustellen, in denen wesentliche Intentionen der Redekomposition sichtbar werden.

DAS ENDE DES TEMPELS
     
     
    B evor wir uns aber erneut den Worten Jesu zuwenden, müssen wir einen Blick auf die historischen Ereignisse des Jahres 70 werfen. Im Jahr 66 hatte mit der Vertreibung des Prokurators Gessius Florus und der erfolgreichen Abwehr eines römischen Gegenangriffs der Jüdische Krieg begonnen, der freilich nicht nur ein Krieg der Juden gegen die Römer, sondern weithin immer auch wieder ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden jüdischen Strömungen und deren Anführern gewesen ist. Erst dies hat dem Kampf um Jerusalem seine volle Schrecklichkeit gegeben.
    Eusebius von Caesarea († um 339) und – mit anderen Wertungen   – Epiphanius von Salamis († 403) berichten uns, dass schon vor dem Beginn der Belagerung Jerusalems die Christen ins Ostjordanland, in die Stadt Pella, geflohen seien. Nach Eusebius entschlossen sie sich zur Flucht, nachdem ihren „Bewährten“ durch eine Offenbarung ein entsprechender Auftrag geworden war (
Hist. Eccl.
III/5). Epiphanius hingegen schreibt: „Christus hatte ihnen gesagt, sie sollten Jerusalem verlassen und wegziehen, weil es belagert werden würde“ (
Haer
. 29,8). In der Tat lesen wir in der eschatologischen Rede Jesu eine Anweisung zur Flucht: „Wenn ihr aber den Greuel der Verwüstung an dem Ort stehen seht, wo er nicht stehen darf   … dann sollen die Bewohner Judäas in die Berge fliehen   …“ (Mk 13,14).
    In welchem Vorgang oder in welcher Realität dieChristen dieses Zeichen des „unheilvollen Greuels“ gegeben sahen und sich zum Aufbruch entschlossen, lässt sich nicht ausmachen. Aber es gab in jenen Jahren des Jüdischen Krieges Ereignisse genug, die man als dieses von Jesus angekündigte Zeichen deuten konnte, dessen sprachliche Form dem Buch Daniel entnommen ist (Dan 9,27; 11,31; 12,11) und dort die hellenistische Entweihung des Tempels anzeigte. Dieses aus der Geschichte Israels entnommene Zeichenwort ließ als Ansage fürs Kommende unterschiedliche Deutungen zu. So kann man dem Text des Eusebius durchaus Sinn abgewinnen, etwa derart, dass angesehene Glieder der urchristlichen Gemeinde „durch eine Offenbarung“ in einem bestimmten Vorgang das vorhergesagte Zeichen erkannten und als den Auftrag auslegten, jetzt die Flucht zu beginnen.
    Alexander Mittelstaedt weist darauf hin, dass im Sommer 66 neben Joseph ben Gorion der Althohepriester Hannas II. zum leitenden Strategen für den Krieg gewählt wurde – jener Hannas, der kurz zuvor, im Jahr 62 n.   Chr., den Tod des „Herrenbruders“ und Leiters der judenchristlichen Gemeinschaft, Jakobus, verfügt hatte (
Lukas als Historiker,
S.   68). Diese Wahl konnte von den Judenchristen durchaus als Signal zum Aufbruch aufgefasst werden, auch wenn das selbstverständlich nur eine Hypothese unter vielen darstellen kann. Die Flucht der Judenchristen zeigt auf jeden Fall noch einmal mit aller Deutlichkeit das Nein der Christen zur zelotischen Auslegung der biblischen Botschaft und der Gestalt Jesu: Ihre Hoffnung ist anderer Art.
     
    Kehren wir zum Verlauf des Jüdischen Krieges zurück. Vespasian, der von Nero mit der Operation beauftragtworden war, stellte alle militärischen Aktionen ein, als im Jahre 68 der Tod des Kaisers gemeldet wurde. Nach einem kurzen Zwischenspiel wurde am 1.   Juli 69   Vespasian selbst zum neuen Kaiser proklamiert. So übertrug er seinem Sohn Titus den Auftrag der Eroberung Jerusalems.
    Nach Flavius Josephus muss dieser ziemlich genau zur Zeit des Pascha-Festes, am 14.   Tag des Monats Nisan, also am 40.   Jahrestag der Kreuzigung Jesu, vor der Heiligen Stadt eingetroffen sein. Tausende Pilger strömten nach Jerusalem. Johannes von Gischala, einer der rivalisierenden Führer des Aufstands, schmuggelte bewaffnete Kämpfer, als Pilger verkleidet, in den Tempel, wo sie ein Gemetzel mit den Anhängern des Gegenspielers Eleazar

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