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Jesus von Nazareth - Band II

Jesus von Nazareth - Band II

Titel: Jesus von Nazareth - Band II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedikt XVI
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die große Linie der Gottesboten der vorangegangenen Heilsgeschichte stellt.
    Das Bild der schützenden und besorgten Vogelmutter stammt aus dem Alten Testament: Gott „fand sein Volk am Rand der Steppe   … Er umhegte es und zog es auf; wie seinen Augapfel hat er es gehütet. Einem Adler gleich, der sein Nest bewacht und über seinen Jungen dahinschwebt, breitete er seine Flügel aus, hob es auf und trug es auf seinen Flügeln fort“ (Dtn 32,10f). Dazu kommt das schöne Wort aus Ps 36,8: „Wie köstlich ist deine Huld, o Gott. Die Menschen kommen zu dir, um sich im Schatten deiner Flügel zu bergen.“
    Jesus rückt hier sein Wirken und Werben in die Nähe der machtvollen Güte Gottes selbst, die Jerusalem mit ausgebreiteten Flügeln beschützt (Jes 31,5). Diese Güte bittet aber um den freien Willen der Küken, und die versagen sich: „Aber ihr habt nicht gewollt“ (Mt 23,37).
    Das Verhängnis, das daraus folgt, wird von Jesus geheimnisvollund doch unmissverständlich mit einem Wort umschrieben, das alte prophetische Überlieferung aufnimmt. Jeremia hatte angesichts der Missstände im Tempel einen Gottesspruch mitgeteilt: „Ich verlasse mein Haus, ich verstoße mein Erbteil“ (12,7). Genau dasselbe kündigt Jesus an: „Euer Haus wird verlassen“ (Mt 23,38). Gott zieht aus. Der Tempel ist nicht mehr der Ort, wo er seinen Namen niedergelegt hat. Er wird leer sein; er ist nur noch „euer Haus“.
     
    Zu diesem Jesuswort gibt es eine merkwürdige Parallele bei Flavius Josephus, dem Geschichtsschreiber des Jüdischen Krieges; auch Tacitus hat diese Nachricht in sein Geschichtswerk aufgenommen (
Hist.
5,13). Flavius Josephus berichtet von seltsamen Geschehnissen, die sich in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Jüdischen Krieges zutrugen und die alle auf unterschiedliche und beunruhigende Weise das Ende des Tempels ankündigten. Der Geschichtsschreiber erzählt von insgesamt sieben solcher Zeichen. Ich möchte hier nur das eine herausgreifen, das sich merkwürdig mit dem eben besprochenen Drohwort Jesu berührt.
    Das Ereignis spielt am Pfingstfest des Jahres 66 n.   Chr. „Als an dem Fest, das Pfingsten genannt wird, die Priester nachts in den inneren Tempelbezirk kamen, um nach ihrer Gewohnheit ihren heiligen Dienst zu verrichten, hätten sie, wie sie sagen, zuerst eine Bewegung und ein Getöse wahrgenommen, danach aber einen vielfältigen Ruf: ‚Lasst uns von hier fortziehen!’“ (
De bello Jud.
VI 299f). Was immer genau geschehen sein mag, eines ist offenkundig: In den späten Jahren vor dem Drama des Jahres 70 war der Tempel von einem geheimnisvollen Wissendarum umwittert, dass sein Ende gekommen sei. „Euer Haus wird euch leer gelassen.“ – „Lasst uns von hier fortziehen!“: Gott kündigt in der für biblische Gottesreden kennzeichnenden Wir-Form (vgl. z.   B.   Gen 1,26) selber an, dass er aus dem Tempel ausziehen, ihn „leer“ lassen wird. – Eine weltgeschichtliche Wende von unabsehbarer Bedeutung lag in der Luft.
     
    Bei Matthäus folgt unmittelbar auf das Wort vom leeren Haus, das ja noch nicht direkt die Zerstörung des Tempels, wohl aber sein inneres Ende, das Aufhören seiner Bedeutung als Begegnungsort von Gott und Mensch, ankündigt, die große eschatologische Rede Jesu mit den Schwerpunkten Tempelzerstörung, Zerstörung Jerusalems, Weltgericht und Weltende. Diese Rede, die bei den drei Synoptikern mit unterschiedlichen Varianten überliefert ist, darf man wohl als den schwierigsten Text der Evangelien überhaupt bezeichnen.
    Das liegt zum einen an der Schwierigkeit des Inhalts, der sich teilweise auf inzwischen eingetretene historische Ereignisse, weitgehend aber auf eine Zukunft bezieht, die unsere erfahrbare Zeit und Wirklichkeit überschreitet, ja sie ans Ende bringt. Künftiges wird angesagt, das unsere Kategorien sprengt, aber doch nur mit Modellen aus unseren Erfahrungen dargestellt werden kann, die dem zu Sagenden gegenüber notwendig inadäquat sind. So erklärt es sich, dass Jesus, der grundsätzlich immer in der Kontinuität von Gesetz und Propheten spricht, das Ganze in einem Gewebe von Schriftworten darstellt, in das er die Neuheit seiner Sendung, die Sendung des Menschensohnes einträgt.
     
    Während die Vision des Kommenden weithin in Bildern der Überlieferung ausgedrückt wird, die uns dem Unbeschreibbaren annähern wollen, kommen zu der inhaltlichen Schwierigkeit des Textes all die Probleme der Redaktionsgeschichte hinzu: Gerade weil Jesu Worte hier

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