Jesus von Nazareth - Band II
Betens ansieht und annimmt; das Brotbrechen – die neue „kultische“ Mitte der Existenz der Gläubigen – geschieht dagegen in den Häusern als den Orten der Versammlung und der Gemeinsamkeit vom auferstandenen Herrn her.
Auch wenn noch keine ausdrückliche Distanzierung von den gesetzlichen Opfern vorgenommen ist, so zeichnet sich doch eine wesentliche Unterscheidung ab. Wasbislang die Opfer gewesen waren, wird abgelöst durch das „Brotbrechen“. Hinter diesem schlichten Wort aber verbirgt sich der Hinweis auf das Vermächtnis des Letzten Abendmahles, auf die Gemeinschaft im Leib des Herrn – auf seinen Tod und auf seine Auferstehung.
Für die neue theologische Synthese, die das heilsgeschichtliche Ende des Tempels in Tod und Auferstehung Jesu bereits vor der äußeren Zerstörung des Tempels geschehen sieht, stehen zwei große Namen: Stephanus und Paulus.
Stephanus gehört in der Jerusalemer Urgemeinde der Gruppe der „Hellenisten“ zu, einer Gruppe griechisch sprechender Judenchristen, die in ihrer neuen Art, das Gesetz auszulegen, das paulinische Christentum vorbereiteten. Die große Rede, mit der nach dem Bericht der Apostelgeschichte Stephanus seine neue Sicht der Heilsgeschichte darzustellen versuchte, bricht an der entscheidenden Stelle ab. Der Zorn seiner Gegner ist bereits aufs Äußerste gesteigert und entlädt sich in der Steinigung des Verkünders. Aber worum es eigentlich ging, ist in der Darstellung der Anklage ganz klar ausgesprochen, die dem Synedrium vorgelegt wurde: „Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort (d. h. den Tempel) zerstören und die Bräuche ändern, die uns Mose überliefert hat“ (Apg 6,14). Es geht um Jesu Wort vom Ende des steinernen Tempels und von dem ganz anderen neuen Tempel, das Stephanus sich zugeeignet und offenbar in die Mitte seiner Verkündigung gestellt hat.
Auch wenn wir die theologische Vision des heiligen Stephanus nicht im Einzelnen rekonstruieren können,so ist doch ihr Wesentliches klar: Die Zeit des steinernen Tempels und seines Opferkultes ist vorbei. Denn Gott selbst hat gesagt: „Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße. Was für ein Haus könnt ihr mir bauen? Oder welcher Ort kann mir als Ruhestätte dienen? Hat nicht meine Hand dies alles gemacht?“ (Apg 7,49f; vgl. Jes 66,1f).
Stephanus kennt die Kultkritik der Propheten. Für ihn ist mit Jesus die Zeit der Tempelopfer und so auch die Zeit des Tempels selber vorbei; die Prophetenworte treten nun in ihr volles Recht. Neues hat begonnen, in dem sich das eigentlich Ursprüngliche erfüllt.
Leben und Botschaft des heiligen Stephanus sind Fragment geblieben, das jählings mit der Steinigung abbricht, die freilich zugleich seine Botschaft und sein Leben erfüllt: In seiner Passion ist er eins geworden mit Christus. Der Prozess wie das Sterben ähnelt der Passion Jesu. Wie der gekreuzigte Herr, so betet auch er sterbend: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apg 7,60). Die theologische Vision zu Ende zu führen und von ihr her die Kirche der Heiden aufzubauen, fiel einem anderen zu: Paulus, der als Saulus dem Mord an Stephanus zugestimmt hatte (vgl. Apg 8,1).
Es ist nicht Sache dieses Buches, Grundlinien der paulinischen Theologie oder auch nur seiner Auffassung über Kult und Tempel darzustellen. Es geht hier nur darum, dass die werdende Christenheit lange vor der äußeren Zerstörung des Tempels davon überzeugt war, dass dessen heilsgeschichtliche Stunde zu Ende sei – wie Jesus es mit dem Wort vom „verlassenen Haus“ und mit seiner Rede vom neuen Tempel angesagt hatte.
Das große Ringen des heiligen Paulus beim Aufbau der Kirche aus den Heiden, des „gesetzesfreien“ Christentums, bezieht sich freilich nicht auf den Tempel. Der Streit mit den verschiedenen Gruppierungen des Judenchristentums kreist um die grundlegenden „Gebräuche“, in denen sich die jüdische Identität ausdrückte: Beschneidung, Sabbat, Speisegebote, Reinheitsgesetze. Während über die Frage der Heilsnotwendigkeit dieser „Gebräuche“ auch unter den Christen ein dramatischer Kampf ausgetragen wurde, der schließlich zur Verhaftung des Apostels in Jerusalem führte, ist seltsamerweise von einem Streit um den Tempel und um die Notwendigkeit seiner Opfer nirgendwo eine Spur zu finden, und dies, obwohl gemäß dem Bericht der Apostelgeschichte „auch eine große Zahl von Priestern gehorsam den Glauben annahm“
Weitere Kostenlose Bücher