Jesus von Nazareth - Band II
Bibel – das Alte Testament – musste neu gelesen werden. Das sadduzäische, ganz an den Tempel gebundene Judentum hat diese Katastrophe nicht überlebt, und auch Qumran, das zwar gegen den herodianischen Tempel stand, aber einen erneuerten Tempel erwartete, ist aus der Geschichte verschwunden. Es gibt zwei Antworten auf diese Situation – zwei Weisen, das Alte Testament nach 70 neu zu lesen: die Lektüre mit Christus, von den Propheten her, und die rabbinische Lektüre.
Von den jüdischen Strömungen zur Zeit Jesu überlebte nur der Pharisäismus, der in der Rabbinenschule von Jamnia ein neues Zentrum fand und seine besondere Weise erarbeitete, in der Zeit ohne Tempel das Alte Testament von der Tora als Zentrum her zu lesen und zu deuten. Erst von da an sprechen wir von „Judentum“ im eigentlichen Sinn als einer Weise, den Kanon der biblischen Schriften als Offenbarung Gottes anzusehen und zu lesen ohne die konkrete Welt des Tempelkultes. Diesen Kult gibt es nicht mehr. Insofern hat auch der Glaube Israels nach 70 eine neue Gestalt angenommen.
Wir erkennen es nach Jahrhunderten des Gegeneinanders als unsere Aufgabe, dass diese beiden Weisen der neuen Lektüre der biblischen Schriften – die christliche und die jüdische – miteinander in Dialog treten müssen, um Gottes Willen und Wort recht zu verstehen.
Rückblickend hat Gregor von Nazianz († ca. 390) vom Ende des Jerusalemer Tempels her so etwas wie eine Periodisierung der Religionsgeschichte versucht. Er sprichtvon der Geduld Gottes, der dem Menschen nichts Unverständliches auferlegt: Gott verfährt wie ein guter Erzieher oder ein Arzt. Er schafft langsam gewisse Bräuche ab, duldet andere und führt so den Menschen voran. „Es ist keine leichte Sache, geltende und seit langem in Verehrung stehende Bräuche zu ändern … Was will ich denn sagen? Das erste Testament unterdrückte die Götzen, duldete aber die Opfer. Das zweite machte den Opfern ein Ende, untersagte aber nicht die Beschneidung. War dann die Unterdrückung (dieses Brauchs) einmal angenommen, so verzichteten (die Menschen) auf das, was nur geduldet war“ (zit. nach Barbel, S. 261 / 263). In der Perspektive des Kirchenvaters erscheinen auch die Opfer, die von der Tora vorgesehen sind, nur als Duldung – als eine Etappe auf dem Weg zur rechten Gottesverehrung, als ein Vorläufiges, über das der Weg hinausführen musste und über das Christus hinausgeführt hat.
Aber nun stellt sich ganz entschieden die Frage: Wie hat Jesus selbst das gesehen? Und wie haben die Christen ihn verstanden? Wie weit die einzelnen Details der eschatologischen Rede Jesu auf sein eigenes Wort zurückgehen, brauchen wir hier nicht zu untersuchen. Dass er das Ende des Tempels – und zwar sein theologisches, heilsgeschichtliches Ende – vorausgesagt hat, steht außer Zweifel. Dafür bürgt neben der eschatologischen Rede vor allem der Spruch vom leer gelassenen Haus, von dem wir ausgegangen sind (Mt 23,37f; Lk 13,34f), und das Wort der Falschzeugen im Prozess Jesu (Mt 26,61; 27,40; Mk 14,58; 15,29; Apg 6,14), das als Spottwort unter dem Kreuz wiederkehrt und bei Johannes in der rechten Fassung im Mund Jesu selber wiedergegeben ist (2,19).
Jesus hatte den Tempel als Eigentum des Vaters geliebt (Lk 2,49) und gern in ihm gelehrt. Er hat ihn als Haus des Gebets für alle Völker verteidigt und ihn dafür zu bereiten versucht. Aber er wusste auch, dass die Zeit dieses Tempels vorbei war und dass Neues kommen würde, das mit seinem Tod und seiner Auferstehung zusammenhing.
Die werdende Kirche musste diese weithin geheimnisvollen Wortsplitter Jesu, seine Worte über den Tempel und vor allem über Kreuz und Auferstehung, zusammenhören und zusammenlesen, um in ihnen schließlich das Ganze zu erkennen, das Jesus hatte sagen wollen. Dies war keine leichte Aufgabe, aber sie wurde von Pfingsten an in Angriff genommen, und wir dürfen sagen, dass alle wesentlichen Elemente der neuen Synthese in der paulinischen Theologie bereits vor dem äußeren Ende des Tempels gefunden waren.
Über das Verhältnis der frühesten Gemeinde zum Tempel sagt uns die Apostelgeschichte: „Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel; das Brot brachen sie in ihren Häusern und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfachheit des Herzens“ (2,46). Es werden also zwei Lebensorte der werdenden Kirche genannt: Für Predigt und Gebet trifft man sich im Tempel, den sie weiterhin als Haus des Gotteswortes und des
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