Jesus von Nazareth - Band II
ben Simon begannen und so ein weiteres Mal das Heiligtum mit dem Blut Unschuldiger besudelt wurde (Mittelstaedt, S. 72). Doch war dies nur ein erster Vorgeschmack der unvorstellbaren Grausamkeiten, die sich nun mit einer wachsenden Brutalität entwickelten, in der der Fanatismus der einen und die zunehmende Wut der anderen sich gegenseitig hochsteigerten.
Die Details der Eroberung und Zerstörung von Stadt und Tempel brauchen wir hier nicht zu behandeln. Es mag aber doch nützlich sein, den Text wiederzugeben, in dem Mittelstaedt den grausamen Ablauf des Dramas zusammenfasst: „Das Ende des Tempels vollzieht sich in drei Schritten: Zuerst die Einstellung des regelmäßigen Opfers, wodurch das Heiligtum nur noch Festung ist, dann die ihrerseits dreistufige Inbrandsetzung … Und schließlich die Schleifung der Ruine nach dem Fall der Stadt. Die entscheidenden Zerstörungen … geschehen durch Feuer;die darauffolgenden Schleifungen sind nur noch ein Nachspiel … Wer … überlebte und auch nicht nachträglich an Hungerschäden oder Seuchen starb, den erwarteten Zirkus, Bergwerk oder Sklaverei“ (S. 84f).
Die Zahl der Toten wird von Flavius Josephus auf 1. 100. 000 beziffert (
De bello Jud.
VI 420). Orosius (
Hist. adv. pag.
VII 9,7) und ähnlich Tacitus (
Hist
. V 13) sprechen von 600.000 Toten. Mittelstaedt meint, diese Zahlen seien übertrieben und man müsse realistisch von etwa 80.000 Toten ausgehen (S. 83). Wer die ganzen Berichte mit ihrem Ausmaß an Mord, Massakern, Plünderungen, Brandschatzungen, Hunger, Leichenschändungen, Zerstörung der Umwelt (im Umkreis von 18 Kilometern alles abgeholzt und kahlgeschlagen) liest, der kann verstehen, dass Jesus – ein Wort aus dem Buch Daniel (12,1) aufgreifend – dazu sagt: „Denn jene Tage werden eine Not bringen, wie es noch nie eine gegeben hat, seit Gott die Welt erschuf, und wie es auch keine mehr geben wird“ (Mk 13,19).
Bei Daniel folgt auf diesen Drohspruch ein Wort der Verheißung: „Doch dein Volk wird in jener Zeit gerettet, jeder, der im Buch verzeichnet ist“ (12,1). Auch in der Rede Jesu hat das Grauen nicht das letzte Wort: Die Tage werden abgekürzt, die Erwählten gerettet. Gott lässt dem Bösen und den Bösen ein großes – nach unserem Gefühl übergroßes – Maß an Freiheit; dennoch entgleitet die Geschichte seinen Händen nicht.
In diesem ganzen Drama, das leider exemplarisch für so viele Tragödien der Geschichte steht, gibt es ein zentrales heilsgeschichtliches Ereignis, das einen Einschnitt von weitreichenden Folgen auch für die ganze Religions- und Menschheitsgeschichte überhaupt bedeutet: Am 5. Augustdes Jahres 70 „musste aus Hungersnot und Materialmangel das tägliche Opfer im Tempel eingestellt werden“ (Mittelstaedt, S. 78).
Nun war zwar auch nach der Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar 587 v. Chr. das Opferfeuer für rund 70 Jahre erloschen; ein zweites Mal war zwischen 166 und 164 v. Chr. unter dem hellenistischen Herrscher Antiochus IV. der Tempel entweiht und der Opferdienst für den einen Gott durch Opfer an Zeus ersetzt worden. Aber beide Male war der Tempel neu erstanden und der von der Tora vorgeschriebene Kult wieder aufgenommen worden.
Die Zerstörung des Jahres 70 war endgültig; versuchte Wiederherstellungen des Tempels unter den Kaisern Hadrian beim Aufstand des Bar Kochba (132 – 135 n. Chr.) und Julian (361) scheiterten. Der Aufstand Bar Kochbas hatte im Gegenteil zur Folge, dass Hadrian dem jüdischen Volk verbot, das Gebiet in und um Jerusalem zu betreten. An Stelle der Heiligen Stadt errichtete der Kaiser eine neue, die nun Aelia Capitolina hieß und dem Jupiter Capitolinus ihren Kult darbrachte. „Erst Kaiser Konstantin erlaubte im vierten Jahrhundert den Juden, einmal im Jahr, am … Jahrestag der Zerstörung Jerusalems, die Stadt zu besuchen, um an der Tempelmauer zu trauern“ (Gnilka,
Nazarener
, S. 72).
Für das Judentum musste das Erlöschen des Opfers, die Zerstörung des Tempels, eine furchtbare Erschütterung sein. Tempel und Opfer stehen im Zentrum der Tora. Nun gab es keine Entsühnung mehr in der Welt, nichts mehr, das gegen ihre weiter wachsende Verschmutzung durch das Böse ein Gegengewicht sein konnte. Und: Gott, der seinen Namen auf den Tempel gelegt hatte, also geheimnisvollin ihm wohnte, hatte diese seine Wohnstatt auf der Erde verloren. Wo war der Bund? Wo die Verheißung?
Eines ist klar: Die
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