Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
anschließenden Geschichte von der Geburt Jesu sagt uns Matthäus, dass Josef nicht der Vater Jesu war und dass er Maria des vermeintlichen Ehebruchs wegen entlassen wollte. Da wird ihm gesagt: „Was in Maria geworden ist, stammt vom Heiligen Geist“ (Mt 1,20). So biegt der letzte Satz den ganzen Stammbaum um. Maria ist ein neuer Anfang. Ihr Kind stammt von keinem Mann, sondern ist Neuschöpfung, ist geworden durch den Heiligen Geist.
Der Stammbaum bleibt wichtig: Josef ist der rechtliche Vater Jesu. Durch ihn gehört er dem Recht nach, „rechtmäßig“ zur Sippe Davids. Und dennoch kommt er von anderswo her, „von oben“ – von Gott selbst. Das Geheimnis des Woher, des doppelten Ursprungs begegnet uns ganz konkret: Seine Herkunft ist zu benennen, und dennoch ist sie Geheimnis. Nur Gott ist im eigentlichen Sinn sein „Vater“. Der Stammbaum der Männer hat sein weltgeschichtliches Gewicht. Und dennoch ist es am Ende Maria, diedemütige Jungfrau aus Nazareth, in der ein neuer Anfang geschieht, das Menschsein neu beginnt.
Werfen wir nun noch einen Blick auf den im Lukas-Evangelium vorliegenden Stammbaum (3,23–38). Mehrere Unterschiede gegenüber der Ahnenreihe des heiligen Matthäus fallen auf.
Wir hatten schon festgestellt, dass hier der Stammbaum das öffentliche Leben einleitet, Jesus sozusagen in seiner öffentlichen Sendung legitimiert, während Matthäus den Stammbaum als Anfang des Evangeliums überhaupt darbietet, von ihm her zur Geschichte von Jesu Empfängnis und Geburt übergeht und die Frage des Woher in ihrer doppelten Bedeutung aufrollt.
Dann fällt auf, dass Matthäus und Lukas nur in wenigen Namen übereinstimmen; nicht einmal der Name von Josefs Vater ist ihnen gemeinsam. Wie soll man das erklären? Abgesehen von Elementen, die dem Alten Testament entnommen sind, haben beide Autoren mit Überlieferungen gearbeitet, deren Quellen wir nicht rekonstruieren können. Es scheint mir schlicht überflüssig, Hypothesen darüber aufzustellen. Beiden Evangelisten kommt es nicht auf die einzelnen Namen an, sondern auf die symbolische Struktur, in der sich der Ort Jesu in der Geschichte darstellt: auf sein Verwobensein in die geschichtlichen Wege der Verheißung sowie auf den Neubeginn, der paradoxerweise zugleich mit der Kontinuität von Gottes geschichtlichem Handeln seine Herkunft kennzeichnet.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Lukas nicht wie Matthäus von den Anfängen – von der Wurzel – bis zur Gegenwart, zum Wipfel des „Baumes“ aufsteigt, sondern umgekehrt vom „Wipfel“ Jesus her zu den Wurzelnabsteigt, um freilich am Schluss zu zeigen, dass die letzte Wurzel nicht in der Tiefe, sondern in der „Höhe“ ist – Gott steht am Beginn des Menschseins: „Enosch kam von Set, Set von Adam, Adam von Gott“ (Lk 3,38).
Gemeinsam ist Matthäus und Lukas, dass der Stammbaum bei Josef abbricht und umbricht: „Jesus war, als er anfing, ungefähr 30 Jahre alt und wurde als Sohn Josefs angesehen“ (Lk 3,23). Rechtlich galt er als Sohn Josefs, sagt uns Lukas. Was Jesu wirkliche Herkunft war, hatte er zuvor schon in den ersten beiden Kapiteln seines Evangeliums geschildert.
Während Matthäus seinem Stammbaum mit drei 14er-Reihen eine klare theologisch-symbolische Struktur gibt, stellt Lukas seine 76 Namen ohne äußerlich erkennbare Gliederung hin. Dennoch ist auch hier eine symbolische Struktur der Geschichtszeit erkennbar: Der Stammbaum enthält elfmal sieben Glieder. Lukas hat vielleicht das apokalyptische Schema gekannt, das die Weltgeschichte in zwölf Teile gliedert und am Ende aus elfmal sieben Generationen besteht. So würde hier ganz unauffällig angedeutet, dass mit Jesus „die Fülle der Zeit“ gekommen ist; dass mit ihm die entscheidende Stunde der Weltgeschichte anbricht: Er ist der neue Adam, der wieder „von Gott“ stammt – radikaler als der erste, nicht nur von Gott angehaucht, sondern wirklich „Sohn“. Wenn bei Matthäus die Davidverheißung die symbolische Zeitstruktur prägt, so will Lukas – indem er bis zu Adam zurückgeht – zeigen, dass in Jesus die Menschheit neu beginnt. Der Stammbaum ist Ausdruck einer Verheißung, die die ganze Menschheit betrifft.
In diesem Zusammenhang ist eine andere Lesart deslukanischen Stammbaums erwähnenswert, die wir beim heiligen Irenäus finden. Er las in seinem Text nicht 76, sondern 72 Namen. 72 (oder 70) war die aus Ex 1,5 abgeleitete Zahl der Weltvölker – eine Zahl, die in der lukanischen Überlieferung
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