Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
geschrieben, um Antwort darauf zu geben. Wenn Matthäus sein Evangelium mit dem Stammbaum Jesu beginnt, so will er die Frage nach Jesu Woher gleich von Beginn an in das rechte Licht rücken; der Stammbaum steht als eine Art Überschrift über dem ganzen Evangelium. Lukas hingegen hat den Stammbaum Jesu an den Beginn seines öffentlichen Wirkens gesetzt, gleichsam als öffentliche Vorstellung Jesu, um mit anderenAkzenten dieselbe Frage zu beantworten – im Vorgriff auf das, was dann das ganze Evangelium entfalten wird. Versuchen wir nun, die wesentliche Absicht der beiden Stammbäume näher zu verstehen.
Für Matthäus sind zwei Namen maßgebend, um das Woher Jesu zu begreifen: Abraham und David.
Mit Abraham beginnt – nach der Zerstreuung der Menschheit im Anschluss an den Turmbau zu Babel – die Geschichte der Verheißung. Abraham weist auf das Kommende voraus. Er ist Wanderer, nicht nur vom Land seines Ursprungs ins Land der Verheißung, sondern Wanderer auch im Hinausgehen aus der Gegenwart aufs Künftige zu. Sein ganzes Leben weist nach vorn, ist Dynamik des Gehens auf der Straße des Kommenden. So stellt ihn mit Recht der Hebräer-Brief als Pilger des Glaubens aufgrund der Verheißung dar: „Er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hat“ (Hebr 11,10). Die Verheißung für Abraham bezieht sich zunächst auf seinen Nachkommen, aber sie reicht darüber hinaus: „durch ihn sollen alle Völker der Erde Segen erlangen“ (Gen 18,18). So ist in der ganzen Geschichte, die mit Abraham beginnt und auf Jesus zuführt, der Blick aufs Ganze gerichtet – über Abraham soll Segen für alle kommen.
Vom Anfang des Stammbaums her geht so der Blick schon auf das Ende des Evangeliums, in dem der Auferstandene den Jüngern sagt: „Macht alle Völker zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19). In der besonderen Geschichte, die der Stammbaum zeigt, ist doch von Anfang an die Spannung aufs Ganze hin gegenwärtig; die Universalität von Jesu Sendung ist in seinem Woher mitgegeben.
Die Struktur des Stammbaums und der von ihm erzählten Geschichte ist freilich ganz von der Gestalt Davids bestimmt, des Königs, dem die Verheißung eines ewigen Reiches gegeben worden war: „Dein Thron soll auf ewig Bestand haben“ (2 Sam 7,16). Der Stammbaum, den Matthäus vorlegt, ist von dieser Verheißung geprägt. Er ist aufgebaut in dreimal 14 Generationen, zuerst aufsteigend von Abraham bis zu David, dann absteigend von Salomon bis zur Babylonischen Gefangenschaft und dann wieder aufsteigend bis zu Jesus hin, in dem die Verheißung ans Ziel kommt. Der für immer bleibende König erscheint – freilich ganz anders, als man vom Modell David her hätte denken mögen.
Diese Gliederung wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass die hebräischen Buchstaben des Namens David den Zahlenwert 14 ergeben und dass so auch von der Symbolik der Zahlen her David, sein Name und seine Verheißung den Weg von Abraham bis zu Jesus hin prägen. Man könnte von da aus sagen, der Stammbaum sei mit seinen dreimal 14 Generationen ein wahres Christkönigs-Evangelium: Die ganze Geschichte schaut auf i h n hin, dessen Thron ewigen Bestand haben soll.
Der Stammbaum des Matthäus ist ein Stammbaum der Männer, in dem aber doch vor Maria, mit der er endet, vier Frauen genannt sind: Tamar, Rahab, Ruth und „die Frau des Urija“. Warum erscheinen diese Frauen im Stammbaum? Nach welchem Kriterium sind sie ausgewählt?
Man hat gesagt, alle vier Frauen seien Sünderinnen gewesen. So zeige sich in ihrer Nennung an, dass Jesus die Sünden und mit ihnen die Sünde der Welt auf sich genommen habe und dass seine Sendung die Rechtfertigungder Sünder gewesen sei. Aber dies kann nicht der bestimmende Gesichtspunkt bei der Auswahl gewesen sein, zumal er nicht auf alle vier Frauen anwendbar ist. Wichtiger ist, dass alle diese Frauen keine Jüdinnen waren. So tritt durch sie die Welt der Völker in den Stammbaum Jesu ein – seine Sendung zu Juden und Heiden wird sichtbar.
Vor allem aber endet der Stammbaum mit einer Frau: Maria, die in Wirklichkeit ein neuer Anfang ist und den ganzen Stammbaum relativiert. Er war alle Generationen hindurch nach dem Schema vorangegangen: „Abraham zeugte den Isaak …“ Aber am Ende steht etwas ganz Anderes. Bei Jesus wird nicht mehr von Zeugung gesprochen, sondern es heißt: „Jakob zeugte den Josef, den Mann Marias, aus der Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird“ (Mt 1,16). In der
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