Jesuslatschen - Größe 42
Trubel
im Lokal ließ die Kellner alle Versprechungen vergessen. Das bringt mich nicht
um, ich nutze die Wartezeit als ausgiebige Verschnaufpause. Der Körper räkelt
sich instinktiv, ohne dass ich bewusst etwas dazu beitrage. Ich habe mich nun
ausgeräkelt und werde immer noch nicht bedient. Also nehme ich doch etwas
enttäuscht die Sachen auf und trabe weiter. Will man es den Leuten hier
verdenken? Sie müssen sich in erster Linie um die Menschen aus ihrer direkten
Umgebung kümmern. Diese sind immer hier. Pilger kommen zwar in Massen am Lokal
vorbei, deren Ansprüche sind aber so nahe am Ziel gering. Zumal sie dann in
Santiago dementsprechend umsorgt werden.
Im
nächsten Dorf strande ich im Restaurant einer Ferienanlage. Dort geht es am
heutigen Sonntag sehr relaxt zu.
Mir
gefällt besonders die ruhige und familiäre Atmosphäre, die Art und Weise wie
die Eltern hier mit ihren Kindern umgehen. Es herrscht ein Einvernehmen
zwischen allen im Raum. Ein letzter Blick auf die Wanderkarte verrät mir, dass
es bis Santiago nicht mehr weit ist. Nun komme ich in Konflikte, entweder
weiterlaufen und erschöpft ankommen oder unterwegs noch einmal nächtigen und
Santiago hellwach erlaufen.
Hier
im Hause hätte es mir gefallen zu übernachten, aber es ist leider kein Bett für
mich frei.
Der
„Monte do Gozo“ winkt aus der nahen Ferne. Zuvor laufe ich durch kahle
Eukalyptuswälder immer entlang der Landebahn des Flughafens. Da diese nicht
gequert werden kann, muss die Startbahn in ihrer gesamten Länge umgangen
werden. Abgespannt und etwas knurrig komme ich wieder auf eine Landstraße. Nach
ein paar Schritten erhellt sich mein Gesicht zusehends. Direkt neben dem Weg
steht ein mannshohes, steinernes Relief, in großen Lettern prangt auf einem
steinernen Spruchband über einer großen Jakobsmuschel das Wort SANTIAGO.
Das
Relief erinnert mich an die Symbolik eines Seemansgrabes (Liebe - Glaube - Hoffnung). In der Mitte ist eine, die ganze Breite
einnehmende, Jakobsmuschel, dahinter sieht man den Pilgerstab mit der
Kalebasse. Beweis dafür, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich bin angekommen
und doch noch nicht am Ziel. Es folgen noch einige Kilometer durch Wald und
Wiese, schließlich ist noch ein anstrengender Anstieg zu meistern.
Geschafft,
ich stehe auf dem „Monte do Gozo“, dem „Berg der Freude“. Von dieser Stelle aus
sahen schon Millionen von Pilgern das erste Mal in der Ferne die Türme der
Kathedrale. Derjenige einer Pilgergruppe, welcher als erster die Türme der
Kathedrale sah, wurde von nun an zum Pilgerkönig ernannt.
Traditionell
ging man von hier an die letzten fünf Kilometer barfuß und barhäuptig. Das
diente der geistigen und körperlichen Entschleunigung .
Die Wegstrecke in ihrer vollen Länge hat mich bislang ordentlich entschleunigt . Der Tag ist trüb, die Freude hält sich
allerdings noch bedeckt. Also bin ich noch nicht angekommen. Körperlich bin ich
auf dem Berg der Freude, in Gedanken sicher noch auf dem Weg. Meine
Vorstellung, welche ich die ganze Zeit mit mir herumgetragen habe, ist eine
andere. Das Santiago de Compostela-Panorama trägt im Tal die Kathedrale in der
Mitte, sieht aber ansonsten sehr zerpflückt und verbaut aus. Ähnlich dem
Anblick des Merseburger Schlosses wenn man es vom Rotthügel aus Richtung Osten betrachtet.
Ein
junges Paar hat ebenso den Weg hier hinauf geschafft und lässt sich oben vor
dem großen Monument den Wind um die Nasen wehen. Dieses gewaltige Monument ist
zu Ehren des Papstbesuches von Johannes Paul II. erschaffen worden. Auf einem
Relief am Monument sieht man Papst Johannes Paul in frommer Gesellschaft mit
einigen Jakobsmuscheln.
Nun
stehe ich hier auf dem Monte do Gozo, vor diesem Denkmal, wie vor mir Tausende.
Salve Paul, ich bin Paul
In
dem Herbergenkomplex habe ich vor zu übernachten, um
Morgen entspannt die letzte kleine Etappe zu meistern. Die Herberge hier oben
ist voll Beton. Im Charme der 70er erinnert sie mich ein wenig an
Halle-Neustadt. Zu meiner Überraschung lese ich, dass dieser riesengroße
Betonklotz erst 1993 erbaut wurde. Er beherbergte im „Heiligen Jahr“ täglich so
um die zweitausend Pilger.
Zurzeit
bietet er vorwiegend Studenten Unterkunft. Ich bin doch nicht siebenhundert
Kilometer gelaufen, um am Ende einbetoniert zu werden. Ein kurzer Ringkampf
zwischen Füßen, Körper und Seele entscheidet. Weitergehen! Es sind nur noch
fünf Kilometer bis in die Stadt. Vor einer langen Brücke taucht vor mir
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