Jetzt ist gut, Knut (German Edition)
lange haben Sie denn da gelebt?« Keine Frage, die Fliege klebte am Streifen. »Während meiner gesamten Kindheit. Ich war acht, als wir in den Urwald gingen, und siebzehn, als ich dann in England auf ein Internat kam. Wir haben bei den Yanomami gelebt, einem Indianerstamm. Mein Vater war Ethnologe.« Das hätte meinem wirklichen Vater gefallen. Er hatte immer davon geträumt, mal aus dem Münsterland herauszukommen. Und wahrscheinlich wäre er auch lieber Ethnologe geworden als Installateur. »Ich bin übrigens Lillian Reich.« – »Angenehm, Marie-Anne Dupont.« Wir gaben uns die Hand. »Sie sind Französin?« – »Nur eine halbe, mein Vater ist Franzose. Aber bitte, erzählen Sie doch weiter. Das Thema Auswandern hat mich schon immer fasziniert. Natürlich nur, wenn es Ihre Zeit erlaubt.« Hat die hungrige Schlange Zeit, eine Maus zu fressen? Na bitte. Fünf Minuten später war ich tief im Dschungel versunken.
Ich spielte mit meinen Freunden, den Kindern der kriegerischen Indianer, erschrak vor einem Krokodil, das bei Hochwasser plötzlich vor unserer primitiven Hütte auftauchte, ließ meinen Vater eine riesige Anakonda erschlagen und erinnerte mich voller Wehmut an meinen zahmen Papagei Bobby und an meinen besten Freund Piri, der starb, kurz bevor ich den Urwald verließ. Ich war ganz gerührt von meiner Geschichte. Meine Zuhörerin lauschte völlig gebannt, bis ich aufhörte zu sprechen. »Es muss schwer gewesen sein, nach alldem wieder in der Zivilisation zurechtzukommen«, sagte sie dann und brachte mich mit ihrer heiseren Stimme in die Wirklichkeit zurück. »Nein, leicht war es wirklich nicht«, sagte ich mit einem abschließenden Seufzen. »Aber das ist alles lange her, und wie Sie sehen, habe ich mich inzwischen an die Zivilisation gewöhnt.« Ich lachte. Sie nicht.
Stattdessen sah sie mich lange und nachdenklich an, rauchte dabei ihre mittlerweile dritte Zigarette und schwieg. Was guckte die denn so? Warum sagte sie nichts mehr? Bestimmt hatte ich zu viel geredet. Wie so oft, wenn ich erst einmal in Fahrt war. Ich merkte, dass ich an meinem Ehering drehte, und nahm mein Kaffeeglas in die Hand, obwohl es längst leer war. »Warum lügen Sie?« Das Glas zerbrach mit lautem Knall auf dem Pflaster.
Köpfe drehten sich zu mir um, ich sprang auf. Gott, war das peinlich! In meinem Kopf drehte sich alles. Ich musste hier weg. Möglichst schnell und möglichst unauffällig. Erst mal unter den Tisch. Mit spitzen Fingern begann ich, ein paar große Scherben aufzusammeln. »Nicht aufregen, dazu gibt es keinen Anlass«, kam von oben die heisere Stimme. Dann erschien eine der Buchhändlerinnen mit einem Kehrblech. Ich atmete tief durch, zählte lautlos bis drei, kam wieder hoch, entschuldigte mich bei der Buchhändlerin für mein Ungeschick, wartete, bis die restlichen Scherben aufgefegt waren, und setzte mich wieder hin. Jetzt nur nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen. Hoffentlich hatte niemand gehört, was diese unverschämte Frau gesagt hatte. Das Pärchen am Nebentisch war schon wieder in seine Diskussion vertieft, und auch sonst schien sich niemand mehr für mich zu interessieren.
So weit wie möglich lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück; ich brauchte Abstand. »Was erlauben Sie sich!«, zischte ich schließlich. Kam ja gar nicht in Frage, dass ich hier irgendetwas zugab. – »Ich erlaube mir gar nichts, ich stelle nur fest, dass Sie mir gerade eine hübsche Mischung aus Büchern von Sabine Kuegler und Rüdiger Nehberg erzählt haben. Ich habe beide gelesen. Und jetzt frage ich mich, wieso Sie das getan haben.« Zum Glück sprach sie leise. Ich gab mir Mühe, einen überheblichen Ton anzuschlagen, und erwiderte mit fester Stimme: »Es mag sein, dass andere Menschen Ähnliches erlebt haben wie ich, Frau Dupont. Diese beiden Namen sagen mir gar nichts.« Das taten sie zwar sehr wohl, aber nun ja. »Wissen Sie, Frau Reich, ich merke immer, wenn jemand lügt. Allein Ihre Körperhaltung in diesem Moment ist ein sicheres Anzeichen. Sie lehnen sich zurück, um sich von Ihrer Lüge zu distanzieren.« So ein Blödsinn. »Was sind Sie, Psychologin?« – »Die Pathologie des Lügens ist mein Fachgebiet. Wünschen Sie sich psychologische Unterstützung?« – »Ich wüsste nicht, wozu. Und ich denke, wir sollten dieses unmögliche Gespräch jetzt beenden.« Ich nahm mein Handy vom Tisch, packte es in die Handtasche und machte Anstalten aufzustehen.
»Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.« Konnte die Frau
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