Jetzt tu ich erstmal nichts - und dann warte ich ab
stehen. Welche Hoffnung könnte der Aufschieber
mit diesem Zusammenhang verbinden? Schon Goethes Faust sehnte sich danach, die Zeit anhalten zu können. Erst der Pakt mit dem Teufel verheißt ihm, die
Zeit sogar zurückzudrehen.
Der Aufschieber beherrscht die Kunst, durch seine Bewegungslosigkeit zumindest seine eigene Zeit anzuhalten. Indem er seine geplante
Aktivität auf Eis legt, begibt sich sein Projekt in den Zustand der Zeitlosigkeit. Der Haken an der Sache ist, dass die Zeit für alle anderen wie gewohnt
weiter läuft. So schafft sich der Aufschieber ein Parallel-Universum, das in einer anderen Geschwindigkeit tickt als der verlassene Heimatplanet. Die
Konflikte sind vorprogrammiert:
Harry ist freier Grafiker und genießt fachlich einen guten Ruf. Seinem wichtigsten Kunden hat er vor Monaten zugesagt, bis zum
31. März eine Anzeigenkampagne zu gestalten. Der Kalender zählt den 30.03. Bis heute liegt der Auftrag jungfräulich da. Der Kunde ruft an und fragt, ob
mit der Abgabe morgen alles klar geht. Selbstverständlich. Sagt Harry. Während in der Zeitrechnung des Anrufers Harry schon Monate lang an den Entwürfen
feilt, steht Harrys Zeitmessung noch auf null. Am Morgen des 31. März, ungefähr um die Zeit, als der Kunde die Entwürfe erwartet, nimmt sich Harry die
Anzeigenkampagne zum ersten Mal vor. Das Telefon wird aus der Wand gezogen, das Handy abgeschaltet, die E-Mails werden nicht mehr abgeholt. Harry
koppelt sich von Zeit und Raum ab. Die Umwelt kann toben und versuchen, ihm eine andere Zeitform aufzuzwingen. Harrys Uhr gehorcht einem anderen
Takt. Es ist Freitag. In einer kreativen Schockstarre verbringt Harry den Tag mit Teekochen, Teetrinken und Tee kaufen. Der Zustand wird bis Montag
konserviert. Montagmorgen setzt sich Harry wieder an den Schreibtisch. Er hält den Unterdruck in seinem Zeitvakuum kaum noch aus. Mit großer
Überwindungskraft gelingt es ihm anzufangen. Nach einem Acht-Stunden-Marathon ist die Anzeigenkampagne fertig. Zwischenzeitlich erhielt er von seinem
Kunden 20 Anrufe, diverse SMS und zahlreiche E-Mails. Abgesehen von dem Rüffel, nicht erreichbar gewesen zu sein, erntet Harry für seine Arbeit großes
Lob …
Nachdem Harry sein Projekt abgeschlossen hat, lässt er seine Zeit auf dem Heimatplaneten wieder für eine Weile
weiterlaufen.
Ein gemeinsamer Nenner, auf den sich viele Zeit-Forscher einigen konnten, ist die Trennung von gemessener Zeit und gefühlter Zeit. So
vergehen in der subjektiven Wahrnehmung von Verliebten die Stunden wie im Flug, während anderen die Stunden im Flugzeug wie Blei vorkommen.
Für den Aufschieber ist das Gefühl der wichtigste Zeitmesser. Er weiß zwar, welche Termine er hat, er weiß aber nicht, wie lange ein Termin dauert. Für
den Aufschieber dauert jeder Termin grundsätzlich fünf Minuten: Mal eben Einkaufen gehen – fünf Minuten. Mal eben in die Autowaschanlage – fünf
Minuten. Mal eben die Wohnung renovieren – fünf Minuten … Weihnachten kommt für den Aufschieber jedes Jahr vollkommen überraschend. Und dann auch noch
im Dezember!
Es gehört zu den Standard-Übungen auf Zeitmanagement-Seminaren, die Dauer von allen Tätigkeiten des Alltags zu schätzen. Zähneputzen, Duschen,
Fernsehen, Autofahren und so fort. Die geschätzten Zeitspannen werden später den tatsächlich benötigten Zeiträumen gegenüber gestellt. Sie ahnen, welche
Abgründe zwischen der gefühlten Zeit und der gemessenen Zeit klaffen. Der gewiefte Aufschieber fühlt sich hier nur bestätigt: Wenn man sich doppelt so
viel vornimmt, schafft man immerhin die Hälfte …
Beinahe hätte ich den größten Zeitfaktor vergessen, an den wir am wenigsten denken: Der Tod. Der Tod hält sich an keine Zeitpläne und
regelt früher oder später trotzdem alles. Das sind unsterbliche Eigenschaften, die auch jedem Aufschieber zur Ehre gereichen …
Nimm jede Ablenkung dankbar an!
Jede Lücke im Terminkalender eines Aufschiebers ist ein bedrohlicher Abgrund. Hier lauert die Gefahr, in ein »Zeitfenster« zu stürzen
und auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Nichts zerstört den Kick des Termin-Pokers so sehr wie die Momente des Innehaltens, der Meditation und der
Rückschau. Also, Finger weg von Ruhepausen. Sie nehmen sich sonst den ganzen prickelnden Zeitdruck, der Ihnen später beim Aufschieben fehlt.
Sollten Sie bei der Planung dennoch eine Lücke übersehen haben, findet sich bestimmt eine willkommene Ablenkung. Denn
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