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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Lehrerzimmer und deponierte sie ein Stockwerk
höher in den Schubladen des schweren Eichenholzschreibtisches im Direktorenzimmer. Dann setzte er sich, legte die Hände in den Nacken, atmete tief aus, ließ sich in die weiche Lehne
seines Direktorensessels zurücksinken und lächelte still.
    Und dieses Lächeln ist nie wieder ganz verschwunden aus Direktor Heinrich Priems Gesicht. Freundlich lächelnd saß er auch jetzt da, hinter seinem
Eichenholzschreibtisch, in seinem großen Sessel, die Krawatte akkurat gebunden, die dünnen Resthaare auf dem rosigen Kopf in Reih und Glied gelegt, und sah sich den Blonden und mich
freundlich an.
    Sehr freundlich.
    Aber irgendwas stimmte nicht mit diesem Lächeln. Es waren die Augen. Direktor Priems Augen lächelten nicht. Sie waren grau, klein und ohne Glanz. Wir bemühten uns, dem Blick
auszuweichen, schauten auf unsere Füße hinunter oder versuchten die Muster im ausgetretenen Parkettboden zu entschlüsseln.
    Eine Weile war es still im Direktorenzimmer. Dann knirschte leise das Sesselpolster und Direktor Priem entkam ein tiefer, ein sehr tiefer Seufzer. Wir schauten hoch.
    »Jesus hat für uns alle gelitten!«, sagte der Direktor mit sanfter Stimme. »Auch für euch, ihr dummen, kleinen Buben!«
    Dabei deutete er mit seinem rosigen Finger auf eine der hohen Wände. Ein hölzerner Gottessohn hing da oben dürr am Kreuze und blickte auf uns herab.
    »Und ihr dankt es ihm mit einer Schulhofrauferei?«
    Traurig schüttelte der Direktor den Kopf. Darauf lehnte er sich weit nach vorne über den Schreibtisch und winkte uns mit einer weichen Bewegung zu sich heran. Wir rutschten näher
und hielten den Atem an. Plötzlich schnellten seine Arme nach vorne, und er hatte uns an den Ohren. Beziehungsweise an den feinen Härchen davor, am Schläfenansatz. Jeweils mit drei
Fingern packte er ein Haarbüschelchen und fing an, ganz langsam daran zu drehen und zu ziehen. Parallel hob es uns aus den Stühlen. Sinnlos versuchten wir den kleinen Drehungen der
Direktorenfinger zu folgen. Wir wanden uns wie Würmer. Die Kopfhaut schien sich vom Schädel zu lösen. Der Schmerz war unerträglich. Scharf und hell. Aber wir schrien nicht. Wir
jammerten nicht. Wir machten keinen Mucks. Die Angst vor der Schande war stärker als der Schmerz.
    Die Schulglocke läutete. Der Direktor stockte kurz. Dann gönnte er sich noch eine letzte, sehr langsame Viertelumdrehung. Schließlich ließ er los. Wir plumpsten auf unsere
Stühle zurück und fassten uns an die heißen Schläfen.
    »Die Pause ist vorbei!«, sagte er und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Wir standen auf und trotteten aus dem Zimmer.
    Als ich einen verstohlenen Blick über die Schulter zurückwarf, sah ich, wie sich an der Wand etwas bewegte. Der dürre Jesus am Kreuz hatte zu atmen begonnen, sein
schmächtiger Brustkorb hob und senkte sich, die Fingerchen krümmten sich über den blutigen Nagelköpfen, sein ganzer ausgemergelter Körper rührte und streckte sich,
soweit es seine eingeschränkte Bewegungsfreiheit eben zuließ. Dann drehte er den Kopf zu mir und nickte mir freundlich zu. Ich beschloss, nicht weiter auf in einzugehen und zog die
schwere Tür hinter mir zu.
    Eine Weile standen wir unschlüssig im Gang herum und bemühten uns, möglichst aneinander vorbeizuschauen. In die Augen konnten wir uns noch nicht sehen. Einfach so gehen konnten
wir allerdings auch nicht. Das Erlebnis im Direktorenzimmer hatte ein unsichtbares Band durch unsere Bubenseelen gefädelt und uns miteinander verbunden. Die Finger eines einzigen Mannes hatten
uns aus den Stühlen gehoben, wir hatten uns gewunden wie Würmer, doch wir hatten nicht geschrien, nicht gejammert, nicht geflennt. Wir hatten dem Herrn Direktor Oberstudienrat Heinrich
Priem keine einzige Träne gegönnt.
    Und jetzt standen wir da, staubig, blutig und geschunden. Unsere Köpfe brannten, unsere Nasen schmerzten, wir hatten ein paar Haare weniger an den Schläfen, aber in unseren schmalen
Brüstchen glühte etwas, warm, groß und weit. Das war der Stolz.
    Aber natürlich konnten wir nicht ewig dastehen und an die Decke hoch- oder auf den Boden hinunterstarren. Irgendwann trafen sich unsere Blicke. Wir sahen uns ernst an. Ich rümpfte die
Nase. Er auch. Ich legte die Stirn in Falten. Er machte es mir nach. Ich zeigte ihm die Zunge. Er zeigte mir seine. Schließlich übernahm er das Kommando. Er hob den Arm, steckte mir
seinen Zeigefinger in die Nase, zog ihn mit etwas Blut an

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