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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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der Kuppe wieder heraus und lutschte ihn ab. Ich nickte. Hatte verstanden. Machte es ihm nach. Er hatte weniger Blut im Nasenloch als ich.
Doch es reichte. Ich lutschte es ab. Er schien zufrieden zu sein und legte mir seine Hand auf die Schulter.
    »Blutsbrüder!«, sagte er. Ich nickte noch einmal. Und weil damit im Grunde genommen alles gesagt war, gingen wir in unsere Klassenzimmer. Es gab noch viel zu lernen.

VON SOUTH DAKOTA, BÖHMISCHEN FLEISCHTASCHEN UND EINEM LAVASTROM IM MARIENMOND
    Mein blonder Blutsbruder hatte auch einen Namen: Max. Und es stellte sich heraus, dass Max ebenfalls in unserem verschlafenen Stadtrandviertel wohnte, nur ein paar
Straßen weiter, ganz in der Nähe unseres Hauses. Doch das waren andere Verhältnisse. Ganz andere. Das Haus war riesig. Eine Villa. Ein Palast. Der Garten war groß wie ein
Fußballplatz und hatte einen akkurat gepflegten Rasen. Die Auffahrt war breit wie eine Autobahn und mit strahlend weißem Kies bestreut. Es gab keine Zimmer, sondern Säle, Hallen,
Plätze. Man konnte sich für jeden Wochentag mindestens eine Toilette aussuchen und versank knöcheltief in den weichen Teppichen, die überall den Boden bedeckten. Das Geld lag in
der Familie und wurde von Generation zu Generation weitergegeben wie ein Gen. Und es kam immer noch neues dazu.
    Max’ Vater hatte noch vor der Geburt seines Sohnes seine Sachen gepackt und sich auf eine überaus dringende Geschäftsreise begeben, von der er bislang noch nicht
zurückgekehrt war. Nach Zwischenstationen auf Tahiti, in der Ukraine und einem zweijährigen Aufenthalt in einem marokkanischen Gefängnis hatte es ihn nach Amerika verschlagen.
Inmitten der endlosen Weiten South Dakotas, was in Max’ Ohren irgendwie indianisch und daher auch interessant und abenteuerlich klang, betrieb er eine riesige Rinderfarm mit angeschlossener
Hackfleischdosenfabrik, die nach seinen eigenen Aussagen außer jeder Menge Arbeit nichts weiter abwarf als einen Riesenhaufen Kuhscheiße. Sein Geld verdiente er mit anderen
Geschäften. Niemand wusste, um welche Geschäfte es sich genau handelte, aber da zuverlässig zu jedem Monatsanfang ein Scheck mit einem beachtlichen Geldbetrag ins Haus flatterte,
hörte man irgendwann auf, weiter danach zu fragen.
    An der Wand in Max’ Zimmer hing ein Foto seines Vaters. Es zeigte einen verwegen aussehenden Mann mit sonnenverbranntem Gesicht, eigentümlich runden, hellblau glänzenden Augen
und einem wirren, weißblonden Haarschopf. Er trug eine kurze Khakihose, ein papageienbuntes Hemd und hatte in der Hand eine dieser riesigen Baseballmützen, die uns damals noch schwer
beeindruckten. Er hielt sie hoch über seinen Kopf und schien damit irgendjemandem weit hinter der Kamera zuzuwinken.
    Manchmal nahm Max das Foto von der Wand, setzte sich auf sein Bett und starrte es an. Wenn ich ihn dabei störte, wurde er wütend. Also setzte ich mich still in eine Ecke und wartete.
Meistens legte er das Bild nach ein paar Minuten wieder weg. Dann sah er mich für einen Moment etwas verwundert an, als wäre er eben von einer langen Reise heimgekehrt und hätte
vergessen, wer ich war.
    Max’ Mutter hieß Martha. Sie war klein und zierlich, hatte langes, leuchtend hellrotes Haar, pflegte sich in schleierartige Kleider zu hüllen und trug stets
ein seltsam verschobenes Lächeln mit sich herum. Im Wochenbett nach Max’ Geburt hatte sie damit angefangen, ein wenig wunderlich zu werden. Sie schien verwirrt, berichtete von Stimmen,
die nachts aus ihrem Kopfkissen direkt in ihr Ohr flüsterten. Angenehme Stimmen waren das, freundlich und zart. Aber dieses nächtliche Stimmengewirr hatte den Nachteil, dass es den Schlaf
störte. Die Stimmen erzählten so interessante Dinge, dass das Einschlafen immer unmöglicher wurde und Martha mit dem kleinen Max in ihren Armen ruhelos durch die vielen Zimmer
rannte. Mit der Zeit wandte sie sich immer mehr von den Dingen dieser Welt ab. Sie hörte auf, Zeitung zu lesen, verheizte nach und nach die Familienbibliothek im Kaminfeuer und stellte den
Fernseher und das Radiogerät auf die Straße. Gleichzeitig wurde sie immer einsilbiger, bis sie eines Tages das Sprechen komplett einstellte. Sie hatte sich endgültig in ihre Welt
zurückgezogen, schien dabei aber nicht unglücklich zu sein.
    Ich mochte sie, auch wenn ich sie nicht oft zu sehen kriegte. Hin und wieder rauschte sie an uns vorbei wie ein bunter Blätterwirbel im Herbststurm, hinterließ einen schweren,
süßlichen

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