Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
Vom Netzwerk:
Parfumnebel und war ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
    Manchmal im Sommer, wenn wir draußen im Gras lagen oder für unsere Blechautos tiefe Furchen in den Kiesweg zogen, sah ich sie an einem der hohen Fenster im ersten Stock stehen. Ihr
Blick war in die Ferne gerichtet, eine Hand spielte mit ihrem Haar, während die andere unsichtbare Figuren in die Luft zeichnete, immer wieder dieselben weichen Bewegungen, dieselben zarten
Linien mit den Fingern. Die Hand schien zu tanzen, da oben hinter der Fensterscheibe, losgelöst vom übrigen Körper, fast wie ein eigenständiges Lebewesen, und nach einer nur
für Martha hörbaren Musik. Das ging oft eine ganze Weile so. Dann hielt diese Hand plötzlich mitten in einer Bewegung inne, Martha senkte ihren Blick zu uns Buben hinunter, nickte
uns freundlich zu, drehte sich um und verschwand. Um die Dinge des Alltags und um Max’ Erziehung kümmerte sich eine böhmische Hausdame namens Prbjiska. Diese Frau Prbjiska war eine
dürre, aber resolute Erscheinung mit einem vogelartigen Gesicht und einem beständig wackelnden, schwarzgrauen Haarknäuel auf dem Kopf. Sie sprach nur gebrochen Deutsch, lachte viel,
rauchte heimlich kurze, stinkende Zigarrenstumpen und kochte jeden dritten Tag Fleischtaschen nach einem Rezept, das sie angeblich als einzigen Lohn für ihre jahrzehntelange Arbeit als
Dienstmagd bei einer uralten böhmischen Großgrundbesitzerfamilie erhalten hatte.
    Eines Tages, als ich Max nach der Schule besuchte, befahl uns Frau Prbjiska zu sich in die Küche. Wir bekamen große Gläser mit frischem Saft und Strohhalmen. Daran sollten wir
nuckeln und ansonsten ruhig sein. Dann legte sie los. Sie explodierte förmlich. Mit einer Geschwindigkeit, die man ihrem dürren Körper nie zugetraut hätte, begann sie durch die
Küche zu wirbeln.
    Schranktüren flogen auf und zu, Teller hoben sich von ihren Stapeln und glitten über die Arbeitsplatte, Schüsseln drehten sich kullernd nebeneinander, ein Messer blitzte durch die
rosigen Fleischstücke, Kartoffeln rodelten über die Raspel, wurden zu gelben Flocken zerrissen, in einer Pfanne brutzelte das Butterschmalz, in einer anderen schwitzten Perlzwiebelchen.
Ein Dampfen, ein Zischen, ein Fauchen. Mit einem dumpfen Geräusch platzte eine Mehlpackung auf, für einen Augenblick verschwand alles in einer weißen Wolke, bevor sich das Mehl
wieder senkte und die Sicht auf die rasende Frau Prbjiska freigab.
    Nach und nach begann sich in dem ganzen Durcheinander eine Struktur abzuzeichnen, die Dinge bekamen eine Form, Frau Prbjiskas Bewegungen einen übergeordneten Sinn. Die Kartoffelflocken
wurden zu kleinen Häuflein zusammengeschoben, mit Mehl, Eigelb und Butter verknetet, zu handtellergroßen Fladen geformt, mit den gewürzten und leicht angebratenen
Fleischwürfelchen gefüllt, in die zischende Pfanne gebettet und so lange geschwenkt, gewendet und mit zerlassener Butter beträufelt, bis sie schließlich goldbraun, dampfend und
duftend auf unseren Tellern landeten. Die Dinger waren so heiß, dass wir sie kaum in den Händen halten konnten. Wir taten es trotzdem. Immer wieder bissen wir in die knisternde Kruste,
dass das Fett nur so spritzte, und hörten erst auf, als uns schlecht wurde und wir wie abgeschossene Tiere von den Küchenstühlen plumpsten. Schwerfällig krochen wir über
den glatten Küchenboden, rollten die Flure entlang, über die Teppiche, die Treppe hinunter und hinaus in den Garten. Dort lagen wir im Gras und hielten schweigend unsere glatten prallen
Bäuche in die Sonne.
    Auf dem Heimweg glänzte an meiner Hose ein großer dunkler Fleck. Und im Hosensack dahinter lagen zwei dicke, fetttriefende, immer noch warme böhmische Teigtaschen.
    Zwei- oder dreimal im Monat bestiegen wir die Straßenbahn und machten uns auf den Weg zu Max’ Großvater, der nur drei Stationen weiter das städtische
Altersheim Marienmond bewohnte. Der Marienmond unterschied sich rein äußerlich nur wenig von einer Legehennenhalle, die ich einmal in einer Tierdokumentation gesehen hatte. Ein
niedriger, lang gestreckter Plattenbau, an dessen aschgrauen Wänden ein paar dürre Efeuranken mühevoll dem Sonnenlicht entgegenkrochen. Die gläserne Eingangstür
öffnete sich und man betrat eine fremde Welt. Hier schienen die Lebensvorgänge ihren üblichen Rhythmus verloren zu haben. Die Zeit war wie geronnen. Die Minuten lösten sich wie
dickflüssige Tropfen aus den Wänden, die Stunden wälzten sich

Weitere Kostenlose Bücher