Jezebel
offen. Kleidungsstücke lagen auf dem Boden. Der Rucksack fehlte, wie Erica schnell feststellen konnte, und sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
Wie eine Fremde tappte sie dabei durch das Zimmer, berührte hier und da einen Gegenstand, der ihrer Enkelin gehört hatte, und blieb neben dem Schreibtisch stehen.
Auch er war nicht aufgeräumt, aber in diesem Chaos fiel trotzdem etwas auf. Es war ein Blatt Papier, beschrieben. Trotz des Tränenschleiers erkannte Erica die Handschrift ihrer Enkelin. Hastig hingekritzelte Worte.
Sie nahm das Blatt hoch und hielt es dicht vor ihre Augen. Dann las sie laut vor:
»Ihr habt mich vertrieben, und dafür sollt Ihr büßen. Alle. Ich komme zurück, irgendwann, dann wird Jezebel herrschen.«
Das Papier rutschte aus ihrer Hand und flatterte zu Boden. Erica Wade schüttelte den Kopf. Sie konnte mit diesen Worten nichts anfangen. Auf der anderen Seite aber wußte sie genau, daß Susan nicht geblufft hatte.
Sie war tatsächlich gegangen, hatte ihr Zuhause verlassen. Einfach so.
Eine Vierzehnjährige, die den Weg nach Hause nicht so schnell wieder finden würde.
Erica Wades Knie gaben nach. Sie mußte sich einfach setzen und fiel auf den Schreibtischstuhl ihrer Enkelin, wo sie hockenblieb und ins Leere starrte.
Sie konnte nicht mehr weiter. Sie konnte auch nicht mehr denken.
Beides war ausgeschaltet. Erica fühlte sich so leer und innerlich ausgebrannt. Wie lange sie im Zimmer gesessen und an nichts gedacht hatte, konnte sie nicht sagen. Irgendwann wurde ihr kalt. Sie verließ den Raum, ging wieder nach unten und dachte daran, daß das Abendessen längst hätte auf dem Tisch stehen müssen.
Es war dunkel geworden. Regen fiel aus den dicken Wolken und ein nie abreißender Schleier aus Tränen. Vielleicht weinte er auch um Susan.
Aus dem Küchenfenster schaute die Frau in die Dunkelheit und den Regen hinein, sah dann die beiden tanzenden Lichter, durch die das Wasser rann und wußte, daß ihr Mann Melvin zurückgekommen war.
Eigentlich früher als erwartet.
Den Lastwagen stellte er vor dem Haus ab, lief die wenigen Schritte bis zur Tür, öffnete sie und war wenig später in der Küche, wo seine Frau stand.
Sie schauten sich an.
»Melvin«, sagte Erica zitternd.
»Und? Was ist geschehen?«
»Sie ist weg.«
»Wer?«
»Susan.« Erica holte tief Luft. Dann sprudelte es aus ihr hervor. Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten und klammerte sich dabei an ihren Mann fest.
Melvin, ein ruhiger Mensch, hörte sich zunächst alles an. Danach drückte er seine Frau auf den Stuhl zurück und holte ihr einen Gin. Er selbst goß sich auch einen ein.
Er drückte ihr das Glas zwischen die Hände. Erica leerte es bis zur Hälfte.
Auch Melvin Wade hatte getrunken. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Ja.«
»Wir werden jetzt alles noch einmal durchgehen, um gemeinsam zu überlegen, wie wir die Dinge ins reine bringen. Bist du damit einverstanden?«
»Davon kommst sie nicht zurück.«
»Aber danach wird es uns besser gehen. Ich bin bei dir, und du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.«
Das Ehepaar saß noch staunend beisammen. Sie sprachen, schwiegen oder tranken. Ihre Enkelin kehrte nicht zurück. Weder am nächsten Tag oder am übernächsten und auch nicht in der folgenden Woche und den sich anschließenden Monaten.
Sie hatte Wort gehalten. Irgendwann gewöhnten sich die Wades daran, allein zu sein. Im Ort hatte es sich herumgesprochen, was da passiert war. Als genug Zeit vergangen war, hatte Erica auch über die Nachricht gesprochen, die das Kind zurückgelassen hatte.
Locker nahmen es die Bewohner nicht auf. Ein ungutes Gefühl blieb bei allen zurück, die davon wußten…
***
»Das also ist das berühmte Euston«, sagte Suko, als wir langsam auf den Ort zurollten.
»Wieso berühmt?« fragte ich.
Er hob die Schultern. »Na ja, ich habe den Namen von dir schon einige Male gehört, so daß dieses Kaff doch bereits eine gewisse Berühmtheit erlangt hat.«
»Vergiß sie.«
»Wie du willst.«
Wenn man in einem kleinen Ort etwas erfahren will, dann ist eine Tankstelle ein guter Platz. Wir sahen eine an der linken Seite und rollten die Auffahrt hoch. Kein anderer Wagen stand an den Zapfsäulen, so hatte der Tankwart sicherlich Zeit für ein kleines Schwätzchen. Er tauchte auf, als wir ausgestiegen waren, und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn er hatte unter einem Auto gelegen und schob sein Rollbrett nun zurück.
»Volltanken!« rief ich ihm zu.
Er
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