Jezebel
hinschauen sollte, denn wir blickten ihn an. Schließlich verdrehte er die Augen und schaute zur Decke. Der kleine Mund zwischen seinen Speckfalten bewegte sich. Wir entdeckten die roten Pusteln auf seinen Wangen und am Hals, als er die Zigarre in den Aschenbecher gelegt hatte.
»Witze machen Sie ja nicht, Mr. Sinclair?«
»Nein, danach ist uns auch nicht zumute. Archie wurde zerfressen. Von innen, ich wiederhole das. Es waren Käfer, die das taten und dann als braungrauer Strom einen Mund verließen, bevor er als Leiche zurückblieb. So ist es geschehen. Er wurde nicht erschossen. Daß er sich die kleine Sandra als Geisel geholt hat, ist zwar verwerflich, aber er befand sich in einer verzweifelten Lage.«
Der Konstabler hatte zugehört. Mit der linken Handfläche wischte er dabei über die Platte seines Schreibtisches, als wollte er das Möbel putzen.
»Warum sagen Sie nichts?« fragte ich ihn.
Er schwitzte ebenfalls und wischte über die Stirn. »Ich war ja nicht dabei.«
»Stimmt. Aber können Sie sich denn vorstellen, daß so etwas überhaupt passiert ist?«
»Nein!«
Die Antwort war mir ein wenig zu schnell gekommen. »Tatsächlich nicht, Mr. Endriss.«
Er senkte den Blick. Für uns war es ein Zeichen, daß er mehr wußte, aber nichts sagen wollte.
Ich lockte ihn noch mehr hervor. »In den letzten Sekunden seines Lebens habe ich noch mit Archie sprechen können, und er hat mir auch etwas erzählt.«
»So? Was denn?«
»Er sprach von ihr. Von einer Person, die zurückkehren würde. Nein, die schon da ist. Können Sie sich vorstellen, wen er damit gemeint hat, Mr. Endriss?«
»Nannte er keinen Namen?«
»Leider nicht.«
»Dann weiß ich auch nicht Bescheid.«
»Wie lange machen Sie den Job hier schon?«
»Dreizehn Jahre.«
»Aha. Dann müßten Sie sich eigentlich auskennen, denke ich mir.«
»Ja, das schon. Deshalb war ich auch so sicher, daß die Menschen hier in Euston nichts mit der Entführung zu tun haben. Archie war eine Ausnahme.«
»Ja, das glaube ich auch.«
Suko, der sich bisher zurückgehalten hatte, sprach den Konstabler an.
»Sie sehen aus, als wäre mit Ihrem Gesicht etwas passiert. Überall rote Punkte, Pusteln oder Flecken. Haben Sie eine Krankheit?«
Endriss war nervös und fuhr mit seiner Hand über die Haut hinweg.
»Nein, wie kommen Sie darauf?«
»Sie sind zumindest ungewöhnlich.«
»Insektenstiche«, erklärte er und senkte den Kopf.
»Ach«, sagte Suko. »Um diese Zeit. Wir haben einen verdammt langen Winter gehabt, und da gibt es doch keine Insekten. Wie können Sie dann gestochen worden sein?«
»Ich bin es eben.« Er drehte sich von uns weg, um aufzustehen. In einer Warmhaltekanne befand sich Kaffee, den er in eine große Tasse kippte.
Wir beobachteten ihn dabei, aber uns interessierte dabei nicht, wie er die Tasse füllte. Etwas anderes zog unsere Blicke an. Auf dem Specknacken, der aus dem Hemdkragen herausquoll, war ein dicker, rotgelber Fleck zu sehen. Er glich einem Geschwür, das dicht vor dem Aufplatzen stand.
Nicht normal…
Suko warf mir einen bezeichnenden Blick zu, den der Konstabler nicht sah. Er hatte sich wieder gesetzt und trank seinen Kaffee. Die Tasse zwischen seinen Händen zitterte. Wir hatten ihn nervös gemacht und ein Thema angesprochen, über das er wohl nicht reden wollte, aber das störte mich nicht, denn ich stand auf und ging seitlich an seinem Schreibtisch vorbei auf ihn zu.
»Was ist denn jetzt?« flüsterte Endriss, als ich neben ihm stehenblieb, um mir seinen Nacken genauer anzuschauen. Er wollte sich drehen, doch ich fuhr ihn im Befehlston an. »Bleiben Sie so!«
Das tat er tatsächlich.
Die Wucherung bildete einen kleinen, spitzen Hügel, der mit einem dicken, gelben Pickel als Haube bedeckt war. Das Geschwür war am Sockel so breit wie zwei Finger, und es hatte sich stark erwärmt, das sah ich an der Rötung. Zudem bewegte es sich. Unter der Haut zuckte und pochte es. Endriss mußte darunter leiden, aber er sagte noch immer kein Wort, obwohl er mitbekam, daß ich neben ihm stand und mir sein Geschwür anschaute.
»Was haben Sie da?« fragte ich ihn. »Was ist mit Ihrem Nacken los, Mr. Endriss?«
»Was soll da sein?« fragte er patzig. »Ein Geschwür. Kann jedem passieren.«
»Stimmt.« Ich fragte ihn nicht um Erlaubnis, sondern tippte plötzlich mit der Fingerkuppe gegen die Spitze. Der Mann spürte dies und zuckte zusammen. Das war auch normal.
Nicht normal war die zweite Reaktion auf meine Berührung. Plötzlich
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