Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
zu dem Drachen und biß den Strick mit seinen Zähnen durch. Dann schloß er geschwind die Schlösser an den Ketten der nächstsitzenden Kinder auf. Als er zu der kleinen Prinzessin kam, bemerkte er, daß sie errötete und mit einer allerliebsten Bewegung ihr Köpfchen wegdrehte.
»Das Biest kommt schon wieder zur Besinnung!« rief Lukas. »Mach schnell!«
Sie wickelten eine Kette um die Schnauze des Drachen, damit er auf jeden Fall das Maul nicht mehr aufreißen konnte. Danach fesselten sie ihm die Vorder-und Hinterbeine.
»So!« seufzte Lukas befriedigt und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als Jim den Schlüssel im letzten Schloß umdrehte. »Jetzt kann nicht mehr viel passieren.«
Nachdem Jim alle Kinder befreit hatte, gab es natürlich zunächst einmal ein riesiges Hallo. Alle waren ganz außer Rand und Band vor Freude. Sie lachten und jubelten und schrien durcheinander, und die Kleinsten hüpften herum und klatschten in die Hände.
Lukas und Jim saßen lächelnd inmitten des Trubels. Die Kinder drängten sich um sie und bedankten sich wieder und wieder. Auch zu Emma gingen sie hin, lobten sie gebührend und klopften sie auf den dicken Leib. Ein paar Jungen kletterten sogar schon auf ihr herum und begutachteten alle Einzelheiten. Emmas verbeultes Gesicht strahlte vor Vergnügen und Rührung.
Lukas ging auf den Flur hinaus und legte den schweren Riegel an der steinernen Wohnungstür vor.
»So, Leute«, sagte er zu den Kindern, als er zurückkam, »vorläufig sind wir in Sicherheit. Niemand kann uns jetzt überraschen. Wir haben ein bißchen Zeit. Ich schlage vor, wir beraten erst mal, wie wir am besten aus dieser ungemütlichen Drachenstadt herauskommen können. Durch die Eingangshöhle, wo wir hereingekommen sind, ist die Flucht zu gefährlich, fürchte ich. Erstens ist Emmas Verkleidung kaputt gegangen, und zweitens haben wir auch nicht alle im Führerhäuschen Platz. Die Drachenwächter würden bestimmt was merken. Wir müssen uns also einen anderen Plan ausdenken.«
Eine Weile dachten alle angestrengt nach, aber keinem fie l eine Lösung ein. Plötzlich fragte Jim mit gerunzelter Stirn: »Li Si, wo hast du eigentlich damals deine Flaschenpost ins Wasser geworfen?«
»In den Fluß, der hinter unserm Haus entspringt«, antwortete die Prinzessin.
Jim und Lukas wechselten einen Blick der Verwunderung, und Lukas schlug sich aufs Knie und rief: »Also doch! Sollte Nepomuk uns angeschwindelt haben?«
»Kann man den Fluß von hier aus sehen?« erkundigte sich Jim.
»Ja«, antwortete die Prinzessin, »kommt, ich zeige ihn euch.«
Sie führte die beiden Freunde in einen Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs.
Dort standen etwa zwanzig kleine steinerne Betten. Es war der Schlafsaal, in den der Drache jeden Abend die Kinder eingesperrt hatte. Wenn man eines der Betten an die Wand schob und sich darauf stellte, dann könnte man oben durch ein Felsenloch hinausschauen. Und tatsächlich - dort unten lag in der Mitte eines merkwürdigen dreieckigen Platzes ein riesiges rundes Brunnenbecken, in dem ein mächtiger Quell goldgelben Wassers entsprang, das über die Ränder des steinernen Brunnens strömte und einen breiten Fluß bildete, der sich durch den düsteren Grund der Häuserschluchten davonschlängelte.
Nachdenklich blickten Lukas und Jim auf diesen Ursprung des Gelben Flusses hinunter, denn daß es sich um diesen handelte, war nicht zu bezweifeln. Inzwischen waren alle Kinder in den Schlafsaal herübergekommen und standen erwartungsvoll um die beiden Freunde herum.
»Wenn Li Sis Flaschenpost mit der Strömung bis nach Mandal a geschwommen ist«, meinte Jim zögernd, »dann müßten wir’s doch vielleicht auch können.« Lukas nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Donnerwetter, Jim«, brummte er, »das ist eine Idee! Nein, das ist mehr als eine Idee, das ist bereits ein fertiger Plan und zwar der kühnste! Es wird eine Fahrt ins vollkommen Unbekannte.« Er kniff die Augen zusammen und paffte unternehmungslustig vor sich hin.
»Ich kann aber nicht schwimmen«, wandte ein kleines Mädchen ängstlich ein.
Lukas schmunzelte.
»Macht nichts, kleines Fräulein. Wir haben nämlich ein prächtiges Schiff. Unsere gute dicke Emma schwimmt wie ein Schwan. Allerdings brauchen wir dazu Teer oder Pech, um alle Ritzen zu kalfatern.«
Aber das war zum Glück keine Schwierigkeit, denn Pech gab es in der Vorratskammer des Drachen gleich mehrere Fässer voll - wovon die beiden Freunde sich sofort
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