Jim
Harz. Obwohl die Anordnung der einzelnen Teile leicht zu erraten war, stöhnte er über die fehlende Bauanleitung. Er war zu allem anderen als Handwerklichem begabt. Jedes einzelne Brett drehte und wendete er wie ein kompliziertes Maschinenteil. Die Arbeit schritt nur langsam voran. Jim kam dazu und suchte mit einem Stöckchen die Ritzen in den Einhängebeschlägen ab. Blitzschnell schnappte er sich eines der kürzeren Bretter und zog sich damit auf einen nahen Obstbaum zurück. Die Äste bogen sich unter seinem Gewicht tief herab. Seine Kletterei wirkte ungelenk.
Bei seinem Erscheinen rief Mundt aus: «Boa, ist der groß!» Tatenlos sah er zu, wie der Affe nach dem Brett angelte und es schließlich aufhob, als wäre es aus Pappe. Der Schwung, mit dem er seine Angst vor Jim verbergen wollte, erlahmte angesichts der ungeheuren Kraft des Tiers. Um ein Haar hätte er hinter Anna Schutz gesucht. Diese packte sein Handgelenk.
«Jim ist auf den Apfelbaum geklettert.»
«Jetzt können wir’s mit dem Bett vergessen.»
Seine Stimme beherrschte er besser als seinen Körper,sie war klar, beinahe munter. Mundt wendete kein Auge von dem Tier. Der Diebstahl erleichterte ihn irgendwie.
«Aber Tobi, er ist ge-k-l-e-t-t-e-rt!»
«Soll vorkommen bei Affen.»
«Jim hat in Gefangenschaft gelebt. Schon als Baby war er immer eingesperrt. Er kann nicht klettern.»
«Immerhin versucht er’s», sagte Mundt. Heimlich überlegte er schon, unter welchem Vorwand er abhauen könnte, als Anna ihn bat, sich etwas einfallen zu lassen, um das Brett zurückzubekommen. Vorsichtig schlich er sich zum Haus.
Anna rührte es, dass Jim unter ihrer Obhut allmählich zu seinem natürlichen Verhalten fand. Es erschreckte sie auch, denn es bedeutete, dass er den Garten irgendwann verlassen und bei anderen Menschen in anderen Gärten auftauchen könnte. An die Landstraße hinter dem Grundstück mochte sie gar nicht denken. Wenn er die Mauer überwinden konnte, hieß es Abschied nehmen. Sie stellte sich unter den Baum und flüsterte Jim alles zu, was sie in ihrem Herz bewegte. Inständig bat sie ihn, seine Künste nirgendwo anders als in ihrem Garten zu verfeinern. Es gab darin noch einige Bäume zu erklettern. Er würde Monate brauchen, um diese luftige Welt zu erkunden. Später könnte er sich daranmachen, die obere Etage des Hauses mit dem Balkon und die große Dachterrasse zu erobern. Die Gartenmauer wäre dann keine Grenze mehr für ihn. Überleg es dir, Jim, flüsterte sie. Dumusst wissen, dass niemand sonst auf der Welt so lieb zu dir sein wird wie ich. Gleichzeitig wusste sie, dass ihr Wunsch, Jim möge bei ihr bleiben, nicht zu erfüllen war. Er würde irgendwann nach Sumatra heimkehren. Der Transport in einem Käfig würde in Jim die traumatischen Erinnerungen an die Jahre in Gefangenschaft wecken und der Urwald, der irgendwo hinter den Palmölplantagen begann, ihn zunächst erschrecken. Doch er konnte nirgendwo anders das Leben führen, das seiner Natur gemäß war. Es wunderte Anna, dass sie so schwer losließ. Normalerweise nahm sie die Dinge, wie sie kamen. Dies war das Geheimnis ihrer Zufriedenheit.
Mundt kam mit Bananen aus dem Haus zurück, weiter reichte seine Fantasie nicht. Misstrauisch äugend näherte er sich dem Baum und hielt Jim mit spitzen Fingern eine hin. Dabei sagte er dem Affen wie selbstverständlich, dass er im Gegenzug die Rückgabe des Bretts erwarte. Jim auf seinem schwankenden Ast streckte einen Fuß aus und holte sich die Frucht. Das Brett hielt er wie einen Schatz vor die Brust gedrückt. Er dachte nicht daran, es zurückzugeben. Noch kauend hatte er schon Lust auf die nächste Banane. Diesmal war Mundt vorsichtiger und verlangte von Jim im Voraus die Herausgabe des Bretts. Er verhandelte mit deutlichen Gesten und zunehmend sicher. Die Angelegenheit zog sich hin, sei es, weil Jim zäh war oder weil er einfach nicht verstand, worauf sein Gegenüber hinauswollte. Als er seine Beute endlichabgab und dabei fast vom Baum fiel, rannte Mundt mit dem Brett weg, als wären die Hummeln hinter ihm her. Die restlichen Früchte ließ er unter dem Apfelbaum liegen. Nach einer Runde um die Bäume trabte er grinsend vor Stolz zu Anna und überreichte ihr seinen Schatz. Jim schien indessen Probleme zu haben, wieder vom Baum zu klettern.
Die Stelle im Garten, an der die beiden das Bett aufstellten, erinnerte an die Situation auf dem Katalogfoto. Der sich auf Kopfhöhe gabelnde Stamm eines Nussbaums stand links neben dem Gestell,
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