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Jim

Jim

Titel: Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lang
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sensiblen, von zahlreichen Nerven durchzogenen Operationsfeld des Nackens konnte der Chirurg leicht einen falschen Schnitt gemacht haben. Deshalb hatte Opitz sich lange Zeit der Fantasie hingegeben, ein technisch überlegener Mediziner könnte die OP-Narbe noch mal auftrennen und sich den Strippensalat anschauen wie die Kabelenden in einer vollgestopften Abzweigdose, dann die richtigen untereinander verbinden, und alles wäre wieder, wie es früher mal gewesen war. Ein Arzt wollte ihm erklären, dass seine Sinneswahrnehmungen nicht einfach vom Körper ans Gehirn weitergeleitet würden. Vielmehr entsprängen sie dort. Diese Vorstellung hätte Opitz entlasten können. Stattdessen regte er sich auf, als hätte dieser Mann ihn für verrückt erklärt. Wenn erirgendwo noch richtig war, dann im Kopf! Aus diesem Grund lehnte er auch die Spiegeltherapie ab. In seinen Augen waren das die Taschenspielertricks eines verhinderten Fakirs, der versuchte, einer Krankheit mit Suggestion beizukommen.
    Die kleine Tüte von Thalia stand mit verkrumpelten Tragegriffen auf dem Sitz gegenüber. Opitz sah darin seine ganze Anspannung, oder vielmehr war es ihm, als würde aus dem zerknitterten Kunststoff seine Anspannung ihn ansehen. Er richtete seinen Blick lieber in die aufkommende Dunkelheit. Der Bus hatte die Stadt schon verlassen, draußen gab es keinerlei Straßenbeleuchtung. Die großen Scheiben spiegelten das Neonlicht von der Decke. Die Reihen vor ihm waren nach wie vor leer. Vom Fahrer des Wagens konnte er nur das in einer grauen Flanellhose steckende Bein und den Oberarm sehen, der mit kleinen Bewegungen dem Spiel des Lenkrads folgte. Es wäre ohne Weiteres möglich gewesen, dass er in einem Geisterbus saß, gelenkt von einem uniformierten Skelett.
    Auch die gesunde Hand legte Opitz nun auf seinen Beinen ab. Wütend schaute er sie beide an. Er konnte sehen, dass sie gleich groß waren. Warum zum Teufel konnte er es nicht spüren, es musste doch möglich sein! Deine linke Hand ist so groß wie deine rechte Hand, sagte er sich, deine rechte so groß wie deine linke. Mit keiner von beiden kannst du deine Schenkel bedecken, hinter keiner dein Gesicht verstecken. Er wollte diese verdammten Finger auf ein Blatt abmalenund nachmessen, um sich zu beweisen, dass seine Hände gleich groß waren. Ehrlich gesagt, hatte er auch das schon getan. Vergeblich, sein Denken musste er ja nicht überzeugen. Oder nur halb. Er kannte die Größe seiner Hände, aber er kannte auch sein abweichendes Gefühl. Beides schien ihm wahr. «Eine effektive Wirkung wird nur dann erzielt, wenn sich der Patient voll auf das Spiegelbild der weniger betroffenen Extremität konzentrieren kann», hieß es in dem Buch. Man sollte die kranke Hand vor dem eigenen Blick verstecken. Das ganze Konzept schien ihm eher auf Selbsttäuschung als auf Erkennen zu gründen.
    Rechts oben zwischen Tür und Frontscheibe saß der runde, gewölbte Spiegel, mit dessen Hilfe der Fahrer die Reisenden beobachten konnte. Opitz sah sich selbst darin, am Rand und klein, nicht viel mehr als ein einsamer heller Fleck in dem von den dunklen Farben der Polster und Haltestangen bestimmten Inneren des Busses, aber vollständig, mit allen seinen Gliedmaßen.

Ringfinger
    Mit einem Trinkgeld konnte Anna Otto, den Lieferanten, dazu bewegen, die Pakete mit den Bauteilen in den Garten zu bringen. Das Auftauchen Jims ließ den Mann in der braunen Hose vollkommen kalt. Er drehte sich achselzuckend um und holte auch noch die Matratze. Er bekam seine Unterschrift, steckte den Lieferschein zu dem Geldschein in die Brusttasche seines braunen Hemdes und schlappte ohne Gruß oder Dank zurück zu seinem Transporter.
    Anna hatte das Gartenbett spontan gekauft. Die Vorstellung, unter freiem Himmel zu schlafen, war ihr unwiderstehlich erschienen. Mit einer Mischung aus Charme und Taktik hatte sie den Verkäufer dazu gebracht, es noch am selben Tag liefern zu lassen. Die Nächte waren in diesem Spätsommer bereits kühl, und sie wollte diesen Spaß nicht aufs nächste Jahr verschieben. Das hatte auch mit Jim zu tun. In ihrer Einbildung baute der liebe Orang-Utan sein Schlafnestgleich neben dem Gartenbett. Anna wollte sich mit allen Kreaturen im Garten verbunden fühlen. Hatte nicht schon der große Naturforscher Linné gesagt, er könne keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier feststellen? Die humane Absonderung fand sie künstlich und grausam.
    Mundt schnitt für sie die Kartons auf. Die Hölzer dufteten nach

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