Jim
feuchten Abdruck. Opitz widerstand der Versuchung, seine eigene Hand von innen dagegen zu halten. Er konnte es aber nicht lassen, das Verhältnis von Ring- und Zeigefinger bei dem Affen zu taxieren. Der Ringfinger war länger.
Einem unwiderstehlichen Impuls folgend, streckte Opitz dem Affen die Zunge heraus, so weit und lang, wie er nur konnte.
rechte Hand
Kleiner Finger
Am Nachmittag machte Opitz sich auf den Weg in die Stadt. Er musste schließlich hundertfünfzig Zeilen abliefern. Deshalb wollte er in den Antiquariaten nach einem Band mit Reportagen und Essays von Alois Pirschl suchen. Der Journalist hatte sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in einem Aufsatz über das deutsch-polnische Verhältnis mit Andrucki befasst, das ging aus einem Brief von Karoline Messbacher an Gerhart Hauptmann hervor. Irgendwas würde sich daraus schon machen lassen. Übers Internet hatte er Pirschls Buch vergeblich gesucht, aber in der Stadt würde er es bekommen, das spürte er. Außerdem tat ihm das Stöbern in den alten Büchern gut. Allein die Antiquariate vermittelten noch etwas vom Glanz und von der Größe des untergegangenen literarischen Imperiums. Prächtige Werkausgaben von Dichtern, die heute niemand mehr kannte, standen dort einträchtig neben denen der ewig Berühmten. Das Verschwindenso vieler einst gefeierter Autoren war letztlich nicht zu bedauern; es gehörte für Opitz zum organischen Prozess von Werden und Vergehen, zur Lebendigkeit der Literatur. Andruckis Schicksal empörte ihn dagegen. Dieser geniale Schriftsteller war ein Opfer seiner Zeit. Er hatte nie eine echte Chance bekommen und würde auch nie eine bekommen. Für Opitz war das eine bittere Gewissheit.
Es läutete, als er sich gerade die Schuhe band. Schwer atmend richtete er sich auf. Er kam im selben Moment zur Haustür wie Anna. Sie überließ es ihm zu öffnen.
«Ich habe meinen Helm liegen lassen», sagte Mundt.
Opitz schaute unauffällig zur Kommode rüber. Da lag kein Helm. Mundt trug auch keine Radlerkleidung mehr.
«Wo hast du ihn denn liegen lassen?», fragte Anna.
«Ich glaube im Garten.»
«Wenn Jim ihn gefunden hat, wirst du ihn so schnell nicht wiederkriegen. Falls es überhaupt stimmt, dass du deinen Helm hier vergessen hast.»
Mundt sah ihn verblüfft an. Anna hatte sich einem Pflänzchen zugewandt, das leicht schlapp aus einer Ampel hing. Opitz dachte nach. Mundt konnte nicht wissen, dass Anna an diesem Nachmittag allein daheim sein würde. Nicht mal sie wusste bisher, dass er wegfahren wollte. Trotzdem stank die Sache. Aber was konnte er tun? Er fand es sinnlos, zu Hause den Aufpasser zu spielen. Gelegenheiten würden die beiden doch finden, falls sie es wollten.
«Ich fahre in die Redaktion.»
Er gab Anna ein Wangenküsschen. Sie nahm die Nachricht gleichmütig auf.
«Wenn du in der Stadt bist, schau mal bei Thalia rein», sagte Mundt. «Die haben seit Montag die Gesamtausgabe von Sumarow da. Sicher hast du es längst mitbekommen.»
«Du weißt genau, dass ich nicht bei Thalia kaufe.»
«Selig sind die Gerechten», sagte Mundt und zog seine Jacke aus.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle musste Opitz einem UPS-Transporter ausweichen, der ihm in der engen Straße entgegenkam. Er erreichte den Bus bequem. Das Geräusch des Dieselmotors lullte ihn bald ein; er ließ sich von der großen Maschine sanft und manchmal ruppig wiegen. Seine Tasche hatte er neben sich auf den Sitz gestellt, Jacke und Hut dazugelegt. Das sollte ihn vor Nachbarn und seinen kranken Arm vor Berührungen schützen.
Opitz war sehr mit sich beschäftigt. Mundts Bemerkung über die Gesamtausgabe der Werke Sumarows hatte ihn mehr beunruhigt als irgendetwas anderes an diesem Tag. Und das war der Grund: Bevor er Feuilletonist wurde, hatte Opitz mit literarischen Texten auf sich aufmerksam gemacht. Seine Gedichte waren bei einem kleinen Verlag erschienen und von der Presse freundlich aufgenommen worden. Es folgte ein Band mit Prosaminiaturen in einem ebenfalls kleinen, aberrenommierten Verlag. Diesen hatte Mundt persönlich im damals wichtigsten Feuilleton des Landes besprochen. Daraufhin hatte sich das Buch an die fünftausend Mal verkauft. Einige Motive und Ideen der kleinen Prosastücke waren den Geschichten Sumarows recht nah verwandt. Genauer gesagt hatte Opitz aus einem ins Französische übersetzten Band von entlegenen Erzählungen des Generals das Beste abgeschrieben. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass man von diesem in unserem Sprachraum
Weitere Kostenlose Bücher