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Jimmy, Jimmy

Jimmy, Jimmy

Titel: Jimmy, Jimmy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark O'Sullivan
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Erinnerungen sein. Nichts davon scheint ihn zu interessieren.
    »’nell, ’nell!«, jammert Tom, und ich beeile mich.
    Wir schaffen es gerade noch. An der Tür des Trockenschranks genau gegenüber der Toilette ist ein Spiegel. Es ist zu doof und ein Grund, warum ich mich auf der Toilette immer beeile, aber Tom liebt es, sich selbst auf dem Pott sitzen zu sehen, und lacht sich normalerweise scheckig. Heute schaut er gar nicht in den Spiegel.
    »Jimmy traurig«, sagt er.
    »Er ist nur müde, das ist alles«, sage ich, aber er ist nicht überzeugt.
    Als er fertig ist, sehen wir nach, ob Mam in der Küche Hilfe braucht. Im Wohnzimmer läuft jetzt »Avatar«. Tom schließt sich den beiden vorm Fernseher an. Mam steht vor der kleinen Arbeitsfläche neben dem Spülbecken. Sie hat eine Karotte in der einen und einen Sparschäler in der anderen Hand. Keine der beiden Hände bewegt sich. An der nackten Wand vor ihr gibt es nichts zu sehen, aber sie starrt sie trotzdem an. Seit der Fahrt von Dublin hierher sieht sie nur noch erschöpft aus.
    »Soll ich Kartoffeln waschen?«, frage ich, und sie gibt sich einen Ruck.
    »Ja.« Sie schiebt sich mit dem Handrücken den Pony aus der Stirn. »Er sieht gut aus, findest du nicht? Mit dem Hemd. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn zuletzt in einem Hemd gesehen habe.«
    Sie beginnt wieder, Karotten zu schälen. Sie konnte es immer perfekt, sodass sie nur lange, immer gleiche Streifen abschälte. Als ich klein war, machte es mich wütend, wenn ich es versuchte und einfach nicht hinbekam.
    »Deine Hände sind noch nicht geduldig genug«, sagt sie dann. Jetzt sind es ihre Hände, die nicht geduldig genug sind. Kleine Schnipsel verteilen sich überall ums Schneidebrett, und die Hälfte der Schale bleibt an den Karotten.
    »Er hat darauf bestanden, dass wir’s kaufen«, sagt sie. »Und als ich wissen wollte, was für eine Farbe, meinte er, das weiß er, wenn er’s sieht. Ich glaube, es hat mit dem alten Schwarz-Weiß-Zeitungsfoto von seinem Vater zu tun. Das Hemd darauf könnte blau, grün oder sonst was gewesen sein, aber auf dem Foto sieht es silbergrau aus.«
    Meine Kartoffeln sind gewaschen. Sie beginnt, die Karotten in Scheiben zu schneiden, und ich wünschte, sie würdemehr auf das scharfe Messer achten, während sie mit ihren Gedanken ganz woanders ist.
    »Er sieht darin … wie soll ich sagen«, sagt sie. »Er sieht irgendwie erwachsen aus.«
    »Soll ich mit den Karotten weitermachen?«, frage ich, weil ich die Hoffnung, die ich aus ihrer Stimme heraushöre, nicht ertragen kann.
    »Geh und schau dir den Film mit an!«, sagt sie. »Ich setz nur noch den Eintopf auf, dann komm ich nach.«
    »Sicher?«
    Sie nickt und wendet sich wieder den Karotten zu. Sie hackt mit dem Messer auf sie ein, dass der Toaster auf der Granitplatte wackelt. Ich höre die Geräusche noch im Wohnzimmer, wo Jimmy in seinem Sessel lümmelt. Er schaut nicht auf, als ich komme. Seine Augen sind auf den Fernseher gerichtet, aber er schaut nicht wirklich zu. Tom sitzt vor ihm auf dem Fußboden und hält den kleinen Fußball fest, den wir ihm gekauft haben. Ich setze mich neben Sean aufs Sofa. Wir sehen uns ein paar Sekunden lang an. Ich weiß nicht, was wir uns mit unseren Blicken sagen wollen. Jimmy holt Luft wie jemand, der todmüde ist. Ich frage mich, ob er wieder auf dem Hausboot ist und nur wartet, dass der ganze Wahnsinn von vorne losgeht.
    Sean war letzte Woche in Martins Wohnung, um die Unterlagen abzuholen: Fotokopien der gefälschten und der echten Geburtsurkunde, Zeitungsausschnitte aus der Zeit der polizeilichen Untersuchungen 1972 und des Prozesses 1982. Als ich zum ersten Mal das Titelseitenfoto von Thierry und Cath sah, war ich verblüfft. Thierry sah kein bisschen wie Zidane aus. Er war groß, ja, aber dünn, schlaksig, mit dieser Spätsechziger-Afrofrisur. Am ähnlichstenwaren noch die Augen, dunkel, schön und irgendwie unergründlich. Cath wirkte neben ihm winzig, und man konnte sehen, dass sie mal eine Schönheit gewesen war, aber es war schon kein Glanz mehr in ihren müden Augen, und ihre blonden Haare hingen in angefressenen Strähnen herunter.
    Jimmy gähnt die ganze Zeit, und ich denke an die schrecklichen Dinge, die er durchmachen musste. Die dauernde Angst, die seine paranoiden Eltern ihm eingepflanzt hatten, den Horror der Nacht, als sie verunglückten und verbrannten. Ich denke daran, wie verrückt es ist, als Kind dauernd seinen Namen wechseln zu müssen. An den doppelten

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